Aarau

Ausstellung zur globalen Musikvideo-Kultur

Jetzt in Aarau und demnächst in Karlsruhe: Eine multimediale Ausstellung namens "Seismographic Sounds", die von einem Buch begleitet wird, widmet sich der Schnelllebigkeit und Fülle der Musikvideo-Szene im Internet.

Die Mechanismen der "Weltmusik" des 20. Jahrhunderts sind Geschichte. Die brasilianische Band, der algerische Rai-Star oder die Sängerin aus Mali, die von Europäern entdeckt, deren Aufnahmen von Europäern produziert und die auch von einer europäischen Agentur für Live-Shows gebucht werden: ein Modell, das ausgedient hat.

Ungefilterte Darstellung des Alltags

Im Zeitalter digitaler Vernetzung sind die Nord-Süd-Polaritäten und die Erste-Dritte-Welt-Hierarchien des Musikgeschäfts überholt. HipHopper aus Tansania, Straßenmusiker aus Kairo und Heavy Metal-Bands aus Indonesien produzieren und managen sich selbst, stellen ihre Sounds und Clips kostenlos ins Netz. Und natürlich operieren sie heute von zu Hause, nicht von Europa aus. So kann diese neue Musikergeneration ihren Alltag unmittelbar und ungefiltert in Klängen und Clips abbilden.

Herkömmliche Formate des Musikjournalismus kapitulieren vor der Schnelllebigkeit und Fülle dieser Szene. Was online passiert, wird auch online reflektiert. Führend in der Begleitung der neuen globalen Musikphänomene ist das Berner Kollektiv Norient, das sich mit seinem Blog "unabhängiges Netzwerk für globale und lokale Sounds" nennt. Hin und wieder brechen sie aus dem Internet aus, präsentieren ihre Arbeit auf einem Musikfilmfestival, in Klangcollagen. Oder wie jetzt in Aarau und demnächst in Karlsruhe anhand einer multimedialen Ausstellung namens "Seismographic Sounds", die von einem Buch begleitet wird.

"Wir haben in der ganzen Welt Journalisten, Wissenschaftler und Musiker angeschrieben, damit sie uns ihre Lieblingsmusikvideos aus ihrem Land schicken", erläutert Norient-Initiator Thomas Burkhalter den Ausgangspunkt. "Dieser Sammlung von 2000 Clips haben wir in mehrtägigen Sichtungen Schlagworte zugeordnet: Money, Loneliness, War, Exotica, Desire und Belonging waren die häufigsten, sei es im Bild, auf der Soundebene oder in den Texten der Songs." Die vier treffendsten Clips zu einem Schlagwort bilden Kapitel, anhand derer sich ein Mosaik aktuellen Musikschaffens formiert.

In der Ausstellung passiert das sinnlich und unkommentiert, das Buch dagegen liefert Deutungen aus verschiedenen Positionen mit, und um die Clips herum schwirren satellitengleich Interviews, Essays, Fotostrecken von 200 Mitwirkenden. Ein Ausschnitt aus der Fülle: Im Themenbereich "Money" etwa parodiert das Journal Rappé, eine Nachrichtensendung in gerappter Form, die Gier des senegalesischen Präsidentensohns. Die indonesische Metalband Burgerkill nimmt in "House Of Greed" die Geldwäsche der indonesischen Regierung aufs Korn. Im "War"-Kapitel findet sich ein konservativ tönender Song wie "La Bala" von Los Tigres Del Norte, der aber per Text kritisch von der Gangsterverherrlichung im mexikanischen Drogenkrieg abrückt.

Umkehrung des Euro-zentrierten Pop-Diskurs

Im Diskurs ist für Burkhalter ein Ansatz zentral, den er "multi-local" nennt: "Wir müssen wegkommen von den Europäern, die erklären, wie es anderswo ist. Ein nigerianisches Musikstück sollte auch von einem Nigerianer kommentiert werden." Beim Thema "Loneliness" dreht er den Spieß um und lässt ein Video des belgischen Künstlers Stromae vom Ghanaer Wanlov the Kubulor analysieren, der in seinem Versuch amüsant scheitert, Stromaes Inszenierung von Einsamkeit auf Afrika zu übertragen. Diese Umkehrung der Einbahnstraße ist Programm für das Norient-Team. Deshalb werden nicht nur Beiträge aus Bolivien, Pakistan oder Syrien thematisiert, sondern auch die europäischen Musikphänomene Dubstep und Grime. Denn in einer Welt, in der alles nur noch einen Mausklick entfernt ist, werden Unterscheidungen zwischen dem anglo-amerikanischen Raum und anderen Produktionszentren obsolet.

Was sich vielschichtig im Kapitel "Exotica" zeigt: Einstmals produzierten Europäer Musik mit mediterranem, indischem oder Latino-Touch aus einem Sehnsuchtstopos heraus. Bei der britisch-asiatischen Künstlerin Bishi verwandelt sich aber plötzlich das historische England zum faszinierenden "Ort des Anderen". Und die Südafrikaner DJ Invizable und Okmalumkoolkat koppeln animistische, traditionelle Motive mit futuristischer Ästhetik, was wir zwar exotisch finden mögen. Für sie setzt sich daraus aber ein neues Heimatbild zusammen.

Dies gilt stellvertretend für etliche Kollegen vom Kontinent, die in ihren Videos starke afrikanische Bildsprache miteinbeziehen. "Man könnte zuerst denken, dass sie auf die Klischees aus dem Westen reagieren", so Burkhalter. "Aber das sind nicht unsere Bilder von ihnen, das sind ihre Parodien lokaler Figuren. Ich denke, wir überschätzen den Einfluss, den wir auf sie noch haben." Was Norients Arbeit vor Ohren und Augen führt: Abseits des Mainstreams hört der unter westlichem Diktat angerührte globalisierte Einheitsbrei auf. Dort regiert eine wilde, emanzipierte Klang- und Bildvielfalt.
Ausstellung

Seismographic Sounds im Forum Schlossplatz Aarau, bis 20. September. Ab 30.9. bis 15.11. im ZKM Karlsruhe.
Buch: Theresa Beyer, Thomas Burkhalter, Hannes Liechti (Hg.): Seismographic Sounds – Visions of a New World (Norient 2015).
von fra
am Do, 27. August 2015 um 00:06 Uhr

Badens beste Erlebnisse