Literatur

Freiburger Autorin Ingeborg Gleichauf setzt sich mit Gudrun Ensslin auseinander

Wie lässt sich die meterdicke Schicht von politischen, zeitgeschichtlichen, literarischen, filmischen, künstlerischen Auseinandersetzungen, Aneignungen und Mythisierungen durchdringen, um auf den Kern der Person zu stoßen, die zu den Gründungsmitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) gehörte, jener linksextremen terroristischen Vereinigung, die seit Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein den bundesdeutschen Staat mit Gewalttaten so herausforderte wie niemand vorher und nachher?

Wie lässt sich über Gudrun Ensslin schreiben, im vierzigsten Jahr nach dem sogenannten Deutschen Herbst?

Das Trauma der "bleiernen Zeit" mit dem Höhepunkt der Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer, der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" und dem Suizid der in Stammheim einsitzenden Gefangenen Jan-Carl Raspe, Andreas Baader und Gudrun Ensslin sitzt bis heute tief. Umso wagemutiger, dass sich die Freiburger Autorin Ingeborg Gleichauf auf eine biographische Spurensuche nach der protestantischen Pfarrerstochter begeben hat, die als das unerbittliche, strenge, fanatische Gesicht der RAF gilt. Gleichaufs Bestreben in "Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin": nicht nur über die einstmals hoffnungsvolle Studentin und Doktorandin der Literaturwissenschaft zu schreiben, sondern sie möglichst viel selbst – in ihren Briefen, Statements, politischen Kassibern – zu Wort kommen zu lassen.

Gleichauf, selbst promovierte Germanistin, will Gudrun Ensslin in ihrem biographischen Versuch Gerechtigkeit widerfahren lassen – soweit das möglich ist angesichts der Bilder, Klischees und Abwehrreaktionen, von denen die zeitgeschichtliche Erinnerung umstellt ist. Und angesichts der schwierigen Quellenlage: Die Familie – Gudrun Ensslin hatte immerhin sechs Geschwister – schweigt. Gleichauf war auf Sekundärliteratur und die Recherche in Archiven angewiesen. Die Rekonstruktion einer Kindheit und Jugend im Dorf Bartholomä und im Tuttlinger Pfarrhaus bleibt in weiten Teilen spekulativ. Die Autorin ist sich ihrer Gratwanderung zwischen Fakten und Fiktion indes bewusst. Immer wieder räumt sie ein, dass ihre Überlegungen keine Wahrheit beanspruchen können.

Eine Frage hat sie dabei umgetrieben – eine Frage, die sich wohl jeder stellt, der sich schon einmal mit Gudrun Ensslin befasst hat: Wie konnte es geschehen, dass ein fröhliches, aufgewecktes Mädchen, eine an vielem interessierte, musisch begabte und sozial engagierte Jugendliche, eine sprachlich sensible, literarisch aufgeschlossene und talentierte Studentin, die nach mehreren Anläufen in die Studienstiftung des Deutschen Volkes aufgenommen wurde – dass diese wache, weit überdurchschnittlich intelligente junge Frau leichthändig und skrupellos die rote Linie zur Gewaltkriminalität überschritt, von der aus es kein Zurück mehr gab?

Eine Antwort auf diese Frage muss auch dieses so sehr um das Verstehen der Person Gudrun Ensslin bemühte Buch schuldig bleiben. Wann geschah der Kippmoment? Als Ensslin 1967 Andreas Baader kennenlernte und von ihm, dem moralisch bedenkenlosen Draufgänger und Abenteurer, dem Tatmenschen, der Entscheidungen nie rückgängig machte, auf der ganzen Linie fasziniert war? Oder schon vorher, als der Student Benno Ohnesorg in Berlin erschossen wurde – was zur Radikalisierung der Studentenbewegung führte? Die Rolle, die Baader im Leben von Ensslin spielte, bleibt auch für Gleichauf letztlich undurchdringlich. Man darf spekulieren, dass die Doktorandin, die sich bisher nur mit Texten beschäftigt hatte und über Hans Henny Jahnn promovieren wollte, ohne diesen Mann, den auch Ulrike Meinhof als Führerpersönlichkeit vom Schlage Che Guevaras anerkannte, nicht zur Terroristin geworden wäre. Andererseits wusste Ensslin genau, was sie tat, als sie mit Baader, Thorwald Proll und Horst Söhnlein am 2. April 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern Brandsätze legte – wofür das Quartett zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde: Man hätte, so Gleichauf, auch milder urteilen können.

Während ihrer ersten Haft, das schildert Gleichauf eindringlich, war Gudrun Ensslin hin- und hergerissen zwischen ihrem vergangenen Leben – in dem sie mit Bernward Vesper einen kleinen Sohn hatte – und der Sehnsucht nach weiterer Gemeinsamkeit mit Baader. Die Ereignisse sprechen eine eindeutige Sprache: Flucht vor erneutem Haftantritt, Leben im Untergrund, Banküberfälle, Sprengstoffanschläge in mehreren Städten mit Verletzten und mehreren Toten, Festnahme, Untersuchungshaft, Prozess in Stammheim.

Die Biographin beschreibt eindrücklich, wie ihr das Ich Gudrun Ensslins abhanden kommt: Wie das Subjekt im Kollektiv der RAF verschwindet; wie die Sprache der Literaturliebhaberin verroht und immer kryptischer wird; wie dieses Festklammern am Wir aber auch ihre Überlebensstrategie ist. Ensslin setzt bis zuletzt auf Kampf und Widerstand – im Gegensatz zu Ulrike Meinhof, die im Mai 1976 ihr Leben beendet. Das letzte Kapitel in Ingeborg Gleichaufs Buch ist an Düsternis nicht zu überbieten. Die Autorin versetzt sich gewissermaßen hinter die Mauern von Stammheim und spürt dort auch die Unmenschlichkeit auf, mit der der Staat auf seine Feinde reagiert. Von der Poesie zu einem Ende in "stummer Gewalt": Man nimmt diesen Weg nicht ohne Erschütterung zur Kenntnis.

Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016. 350 Seiten, 22 Euro. Lesungen: Die Autorin liest am 17. Januar um 20 Uhr im Wintererfoyer des Freiburger Theaters und am 19. Januar um 20 Uhr in der Rainhofscheune in Kirchzarten
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von Bettina Schulte
am Fr, 13. Januar 2017

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