2006 eroberten vier kaum der Pubertät entsprungene blasse J

ungs aus Sheffield die Musikwelt im Sturm und retteten nebenbei den Rock’n’Roll. Das aufgekratzt-rotzig nach vorne preschende Debütalbum der Arctic Monkeys verkaufte sich bis heute in der ersten Woche in den UK-Charts so gut wie kein anderes Album der Musikgeschichte. Zu Recht! Wann gab es zuletzt ein solches Debüt?

Seit "Whatever People Say I Am, That’s What I’m Not" hat sich die Band mit jedem Album weiterentwickelt und neue Stile adaptiert. Kontinuum waren neben den Gitarren die selbstironischen Texte. Die Fans gingen diesen Weg mit. Jedes Album wurde millionenfach verkauft. Vor fünf Jahren gipfelte die Entwicklung in dem Triumphzug des Albums "AM", das die perfekte Balance zwischen dreckigem Hardrock, groovy Funk, sehr clever eingesetzten HipHop-Elementen und großen Balladen fand und die Arctic Monkeys endgültig zu Weltstars machte. Nach der letzten Tour wurde es dann sehr still um die Band. Sänger und Mastermind Alex Turner – inzwischen 32 – widmete sich seinem stark von Scott Walker inspirierten Nebenprojekt "The Last Shadow Puppets". Schlagzeuger Matt Helders tourte mit seinem Idol Iggy Pop. Die beiden anderen Bandmitglieder genossen das Familienleben. Bis es im vergangenen Jahr alle wieder juckte.

Am Freitag erschien nun das sechste Album. Nur ganz wenige andere Neuveröffentlichungen in diesem Jahr dürften die Musikwelt ähnlich in Wallung bringen. Seit Wochen sind die Musik-Blogs und Fachmagazine im Schnappatmungsmodus. Der sperrige Titel "Tranquility Base Hotel & Casino" bezieht sich auf den Ort der ersten Mondlandung, wo Neil Armstrong seinen historischen ersten Schritt tätigte, das so bezeichnete Meer der Stille, das sich die Arctic Monkeys nun als zukünftige Urlaubsoase mit Casino vorstellen.

Erneut vollzieht die Band eine musikalische Häutung. Ganz offenbar ist die Space-Lounge kein Ort für Rock’n’Roll. Den krachenden Indierock der Nullerjahre schütteln die Arctic Monkeys endgültig ab. Die Gitarren sind gezähmt, der Sound smooth. Mit jazzigen Klängen, Streichern, Piano, barockem Hall in der Stimme und warmen Sixties-inspirierten Laid-Back-Kompositionen betritt die Band neues musikalisches Terrain. Lounge-Musik für die Millennials mit einer Prise Psychedelic.

Produziert wurde das Album von James Ford und Alex Turner, aufgenommen wurde es in Los Angeles, Paris und London. Inhaltlich war wohl vor allem Turners Wahlheimat Los Angeles bestimmend: Trump und die Utopie eines postapokalyptischen Amerikas sind neben künstlerischer Selbstreflexion zentrale Themen der elf neuen Songs. Neben einem spöttischen Bild für den US-Präsidenten ("The leader of the free world reminds you of a wrestler wearing tight golden trunks") bringen Turner & Co auch das Internet-Zeitalter mit einer einprägsamen Songzeile gekonnt auf den Punkt: "No one's on the streets, we moved it all online."

Der Zynismus ist ihnen also geblieben. Doch wie kam es zu dem radikalen musikalischen Kurswechsel? Wie Turner nun in Interviews erklärt, war sein 30. Geburtstag der Initialpunkt für die Musik auf dem neuen Album. Freunde hatten ihm einen Steinway-Flügel geschenkt. Auf diesem edlen Instrument komponierte der Sänger sämtliche Songs des neuen Werkes. Sinatramäßige Akkorde liegen dem schmächtigen Briten im Blut, sein Vater war Jazz-Musiker. "Wenn man am Klavier komponiert, kommt man automatisch zu anderen Ergebnissen als auf der Gitarre", erzählt er. Klar ist, Turner war als Komponist und Songschreiber diesmal die treibende Kraft. Mit den modernen Texten wollte er ganz bewusst ein Gegengewicht zur Musik erzeugen. "Das Album sollte insgesamt klassisch angelegt sein, aber nicht wie eine Retro-Veranstaltung wirken", betont der Wahl-Kalifornier. Stimmlich hört man in den Songs ganz viel Scott Walker und ein bisschen Elvis. Turner ist ganz in seinem Crooner-Element. Alle Songs gehen elegant ineinander über.

Die Band entschied sich dazu, keine Singles zu veröffentlichen. Der lässige Glamour-Lounge-Sound lässt keine Radio-Hits zu, dafür aber solch brillant-lässige Kompositionen wie "The Ultracheese". Insgesamt ist das Album aber als Gesamtkunstwerk zu sehen. Die Frage, die sich am Ende jedoch stellt, ist, wie dieser für eine Band, die eigentlich für krachenden Rock steht, doch sehr gewagte Soundwechsel beim Live-Publikum, etwa beim Southside, ankommt. Die ersten Reaktionen in einschlägigen Foren war sehr gemischt. Andererseits: Wer etliche Festivalkracher des Kalibers "I Bet You Look Good on the Dancefloor" im Repertoire hat, darf auch mal leisere Töne anschlagen. Und schließlich ist das riffgeile Dosenbierpublikum der ersten Stunde inzwischen auch nicht mehr im Teenageralter. Da muss es nicht immer Up-Tempo sein.

von Sven Meyer