Reisen im Kopf (Teil I)

In Gedanken verreisen

Geschichten und Bücher von Herzensorten und aus der weiten Welt des Reisens: Autorinnen und Autoren der Badischen Zeitung erzählen, wie ihnen persönlich die kleine Auszeit jetzt gelingt.

Seien wir ehrlich: Das Reisen, die Freiheit, das Unbekümmertsein, das Loslassen und Durchschnaufen fehlen uns allen. So bleibt uns derzeit nur das Reisen im Kopf – die kleine Auszeit zwischendurch. Ganz unterschiedliche Anregungen, Geschichten und Bücher haben wir dafür hier zusammengetragen.

Das Meer, der Wind, Du und Ich

von Birgit Herrmann

Ich vermisse Dich! Du bist so weit weg – 1000 Kilometer. Aber ich könnte jetzt in Rekordzeit bei Dir sein. Die Autobahnen sind frei. Das Benzin ist billig, die Zeit perfekt. Wäre da nicht die Ausgangsbeschränkung. In meinen Gedanken flüchte ich oft zu Dir. In das kleine Ferienhäuschen in Ahrenshoop, nur wenige Schritte von Deinem Strand entfernt. Ich stelle mir vor, wie Du mich mit deinen weiten Armen begrüßt. Ein Blick auf Dein glitzerndes Wasser, ein tiefer Atemzug Deiner salzigen Luft und die wärmende Sonne auf meiner Haut...

Vor allem: Ich hätte Dich jetzt ganz für mich allein. Keine Touris weit und breit. Nur Du und ich – mehr brauche ich nicht zu meinem Glück. Doch etwas fehlt noch: mein Mann, mein Hund, gute Musik, ein Stapel Bücher, ein paar Flaschen Wein und Brennholz – viel Brennholz.

Dann könnte es losgehen mit der Entspannungstherapie: Dein Wind würde alle meine Sorgen wegpusten, das Hin und Her Deiner Wellen würde wie ein Mantra meine Nerven beruhigen, der Blick auf Deinen Horizont würde den Wahnsinn in die richtige Relation setzen. Nach langen Strandspaziergängen würde abends der Rotwein am knisternden Kaminfeuer Körper und Seele wärmen. Ach, was gäbe ich jetzt dafür, ein paar Wochen bei Dir unterzutauchen, bis das Virus übers Land gezogen ist...

Herzensorte in der Wetter-App

von Ronja Vattes

Es gibt diese Orte, irgendwo auf der Welt, wo zu irgendeiner Zeit des Lebens ein Teil meines Herzens hängenblieb. Ein Herzensort eben. Und die wahre Liebe schafft es bei mir sogar in die nüchterne Wetter-App. Aber erst kommt dort das Alltägliche, also die Wetterprognose für Freiburg (Arbeitsort!), wie das Wetter bei der Omi (Unwetter? Hitze?) und im Schwarzwald wird (Schneebericht oder eher Wanderthema für die BZ?). Und dann, endlich, scrolle ich sehnsüchtig weiter zum Wetter meiner Herzensorte. Eine kleine Vergewisserung im Alltagsgetriebe, dass es ihnen gut geht, sie es nicht zu heiß, zu kalt, zu stürmisch haben. Dass es sie weiterhin geben wird, dass sie da sind, wenn ich sie als Fluchtpunkt brauche.

Nur drei Plätze in der Favoritenliste habe ich zu vergeben, da bin ich streng! Es muss ein Ort sein, den ich wiederholt aufgesucht habe – und an den ich mich immer wieder zurücksehne. Oder ein Ort, an dem ich glücklich war – und bin, wenn ich an ihn denke. Bergün in der Schweiz ist einer davon, sommers wie winters. Platz zwei belegt Jougne im französischen Jura, ein Chalet, das für unsere Familie über die Jahre zu einer zweiten Heimat wurde. Und Platz drei? Ist hart umkämpft. Im Winter ist es Rørøs in Norwegen. Im Sommer ist es Sylt. Oder Zoutelande. Egal, Meer jedenfalls!

Die unglaublichen Reisen der Tiere

von Silke Kohlmann

Wir überqueren den Himalaya und wandern durch die Kalahari. Wir schwimmen in tropischen Meeren und ruhen uns auf dem mondbeschienenen Strand der Himmelfahrtsinsel aus. Alles nicht wahr? Doch. Nämlich wenn wir uns mitreißen lassen von den 20 wunderbaren Tierporträts im Buch "Wanderungen". Autor Mike Unwin und Illustratorin Jenni Desmond nehmen uns darin mit auf "Die unglaublichen Reisen der Tiere". Das ist für Buchfreunde ab vier Jahren ein Genuss und weitet auch den Horizont der Eltern. Denn: Wer hätte gedacht, dass es die kleine Küstenseeschwalbe ist, die jedes Jahr die längste Reise antritt, die es im Tierreich gibt? Von der Arktis bis in die Antarktis fliegen die zarten Vögel – und wir fliegen mit.
Mike Unwin, Jenni Desmond: Wanderungen. Die unglaublichen Reisen der Tiere. Fischer Sauerländer, 48 Seiten, 16,99 Euro

Natürliche Entschleunigung

von Ulrike Ott

Zugegeben: Ich bin kein sehr geduldiger Mensch, sondern jemand, der am liebsten zwei, drei Dinge gleichzeitig erledigen will. Wenn ich im südlichen Afrika bin, ist das anders. Da fällt es mir leichter, mich mit der Langsamkeit zu arrangieren. Warum? Weil die Natur dort einen zwingt, nachsichtig und geduldig zu sein. Vor allem in Namibia. Das Land ist weit und statistisch mit 2,4 Menschen pro Quadratkilometer sehr leer. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich auf die faszinierende Natur zu konzentrieren: Sand in allen Farben, Steine, sanfte Hügel und wuchtige Berge. Dazu ein Licht, das diese Landschaft verzaubert. Je nach Tageszeit immer ein bisschen anders. Mein Traum von Afrika lässt sich im Moment nicht leben. Aber ich habe ein Buch entdeckt, in dem ich stundenlang blättern könnte: Michael Poliza hat wunderschöne Fotos in Namibia gemacht. Er zeigt das vielseitige Land aus der Luft und vom Boden, die berühmte Skelettküste mit ihren Gesteinsformationen und gestrandeten Wracks, die Namibwüste mit ihren Sanddünen bis zum Horizont, den gewaltigen Fish River Canyon als zweitgrößte Schlucht der Welt, holprige Straßen durch die Wildnis, ab und an ein paar Wüstenelefanten. Der großformatige Bildband weckt Sehnsüchte, er entschleunigt aber auch. Mich zumindest,immer dann wenn ich wieder ungeduldig werde.
Michael Poliza, Namibia, TeNeues Verlag Kempen, 280 Seiten, 80 Euro

Ein bisschen Welt reinlassen

von Anita Fertl

Der Westerwald ist nicht eben der Hotspot für Kopfreisen. Aber Mariana Leky hat in ihrem Roman liebenswert-skurrile Charaktere in eine (wackelige) Dorfidylle gesetzt und daraus eine zugleich urkomische und tieftraurige Geschichte gezaubert. Darin spielen Vertrautheit, aber auch die Sehnsucht nach Reisen und der Ferne eine große Rolle. Für mich taugt dieser Roman ganz besonders gut für Kopfreisen, weil ich ihn während meines El-Hierro-Urlaubs vergangenen November las. Und so sitze ich jetzt, beim wiederholten Lesen, wieder im Flieger, wenn Selma, die pfiffige Großmutter der Ich-Erzählerin Luise, von einem Okapi träumt und sich alle sicher sind, dass jemand sterben muss. Weil das nach solch einem Traum immer so war. Später lese ich in El Hierro auf dem Steinmäuerchen, an das der Atlantik klatscht, was dieser Traum mit den Dorfbewohnern macht: Luises Vater will "ein bisschen mehr Welt reinlassen" und geht auf Weltreise, ihre Mutter stürzt sich in eine Affäre mit dem italienischen Eisverkäufer. Und wenn Luise selbst Abschied nehmen muss von geliebten Menschen, sie sich viel später doch wieder verliebt; und ja, wenn Luise endlich lernt, die Welt reinzulassen, dann bin auch ich wieder zu Hause. Hach, schön war’s.
Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann, Dumont Verlag, 20 Euro

Mehr Reisen im Kopf gibt es nächste Woche.
von BZ-Redaktion
am Fr, 03. April 2020 um 19:00 Uhr

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