"Kunst ist eine Notwendigkeit"

BZ-INTERVIEW: Kunsthistoriker Christof L. Diedrichs stellt in der Müllheimer Buchhandlung Beidek seinen neusten Band vor.

MÜLLHEIM/BALLRECHTEN-DOTTINGEN. Oft findet der Laie zu Kunstwerken keinen Zugang. Er gibt sich mit ein paar Kurzinformationen zufrieden. Findet etwas schön – oder auch nicht. Der promovierte Kunsthistoriker Christof L. Diedrichs hat deshalb ein Konzept entwickelt, das den passiven Kunstkonsumenten zum proaktiven Kunstbetrachter werden lässt. In der Buchreihe "ein-blicke" macht er an Beispielen die Herangehensweise deutlich. BZ-Mitarbeiterin Sabine Model hat sich mit ihm über das Wie und Warum unterhalten.

BZ: Herr Diedrichs, Kunstgeschic
hte ist eine Wissenschaft. Warum sollte es Laien Spaß machen, das Zeichensystem von Künstlern zu entschlüsseln?
Diedrichs: Kunst ist nicht nur etwas für Spezialisten. Künstler meinen jeden Interessierten. In der vormodernen Kunst ging es darum, eine meist religiöse Aussage im Bild konkret werden zu lassen und den aktuellen Bezug zum Leben des Betrachters aufzuzeigen. Um das zu verstehen, braucht man nur rudimentäre Vorkenntnisse, aber einen geübten, aufmerksamen Blick. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gehört zum Verständnis der Kunst zudem noch die Kenntnis des Konzepts, das hinter der Kunst steht. Daher ist die Herangehensweise eine andere. Moderne Kunst funktioniert anders als vormoderne. Deshalb erschließt sich beides nur dem, der die unterschiedlichen Funktionsweisen kennt.

BZ: Sie nennen Ihre Methode "Schule des Sehens". Wie meinen Sie das?
Diedrichs: Es gibt nicht nur eine einzige Form des Sehens. Sehen ist kulturell geprägt. In unserer Zeit der Bilderflut muss Sehen neu erlernt werden. Den Einsatz von Audio-Guides in Ausstellungen zum Beispiel halte ich für eine Entmündigung des Betrachters, denn es wird ihm vorgegeben, was er gefälligst wie zu sehen hat. Klar, dass man da nur sieht, was man weiß. Um das Sehen wieder zu lernen, braucht es Anleitung. Es geht darum, das Bild als Dialogpartner ernst zu nehmen.Vermeintliche Fehler im Bild sind beispielsweise in Wirklichkeit keine Fehler, sondern wichtige Fingerzeige auf die Deutung hin. Diese Art des Sehens ist faszinierend und bereichernd. Wer sich darin übt, kann sie auf alle Bilder anwenden.

"Kunst kann uns davor

bewahren, zu verrohen"
BZ: Bisher haben Sie vier Bände "ein-blicke" veröffentlicht. Wie kam diese Aufteilung zustande und was sind die jeweiligen Grundgedanken?
Diedrichs: Zwei Bände widmen sich dem Mittelalter (Die Königshalle in Lorsch) und der Frühen Neuzeit (Jan van Eyck), zwei der Moderne (Paul Gauguin, Franz Marc). In Theorie und Praxis wird veranschaulicht, wie sich die jeweiligen Kunstepochen dem Betrachter erschließen. Daraus entwickelt sich ein neuer, verständlicher und lebendiger Zugang.

BZ: Muss ich alle Bände gelesen haben, um zu verstehen, wie Kunst geht?

Diedrichs: Nein. Jeder Band funktioniert eigenständig. In den bisherigen Bänden steht immer ein bestimmter Aspekt der Betrachtung und Deutung im Fokus, ohne auf die anderen gänzlich zu verzichten. Inzwischen sind zwei weitere Bände über Grünewald und William Turner in Arbeit, die das weiterführen werden.

BZ: Was muss ich als Laie mitbringen, um mich auf Kunst einzulassen? Gibt es dabei Spielregeln?
Diedrichs: Selbstverständlich, auch wenn sie vielleicht anders aussehen, als man sich das normalerweise vorstellt. Der Kunstinteressierte sollte vor allem Zeit mitbringen. Er sollte den Künstler nicht unterschätzen. Und er sollte die Bildbeschreibung laut formulieren. Das führt zu mehr Konzentration und Selbstkorrektur. Wer sich die Zeit nimmt, zuerst zu sammeln, was er sieht, der ’hört‘ ganz anders auf das, was das Bild zu sagen hat.

BZ: Habe ich das richtig verstanden: Man sollte sich der Kunst also ohne vorgefasste Meinung nähern, sich Zeit nehmen, in Dialog mit ihr treten und richtig zuhören? Sind das nicht alles Eigenschaften, die auch im zwischenmenschlichen Bereich wichtig sind?
Diedrichs: So ist es. Und genau das ist mein Anliegen: Mit der Kunst für das Leben lernen. Kunst ist nämlich kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, um den Menschen zum Menschen zu bilden. Kunst kann uns in diesem Sinn davor bewahren, zu verrohen. Das ist offensichtlich nötig, nicht nur in den USA. Es geht ganz schlicht darum, sensibler und aufmerksamer zu werden.

BZ: Gibt es Gelegenheit, das unter fachkundiger Anleitung zu üben?
Diedrichs: Ja. Alle vier Wochen biete ich öffentliche Führungen im Augustinermuseum in Freiburg an. Es gibt demnächst auch einen Kurs an der Volkshochschule Emmendingen. Darüber hinaus halte ich Vorträge und so weiter.

BZ: Warum haben Sie für Ihre Präsentation in der Buchhandlung Beidek das Bild "Tiger" von Franz Marc ausgewählt?
Diedrichs: Dieses Bild zeigt exemplarisch, was moderne Kunst eigentlich ist. Jeder glaubt, es zu kennen. Im Zwiegespräch mit dem Kunstwerk stellt man jedoch fest, dass es noch Anderes zu entdecken gibt als die geläufigen Deutungsansätze. Das verspricht eine spannende Interaktion mit der Kunst, denke ich.

Info: Unter dem Titel "Wie geht Kunst?" stellt Christof L. Diedrichs am Donnerstag, 16. Februar, um 20 Uhr, in der Buchhandlung Beidek in Müllheim seinen vierten "ein-blicke"-Band über Franz Marcs "Tiger" vor.


von mod
am Di, 14. Februar 2017

ZUR PERSON: Christof L. Diedrichs

wurde 1966 in Bochum-Wattenscheid geboren, ist promovierter Kunsthistoriker und lebt heute als freier Autor in Ballrechten-Dottingen. Von 2001 bis 2007 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität Berlin, von 2008 bis 2014 lehrte er als Leiter der Victor-Klemperer-Akademie in Freiburg den Studiengang Kunstgeschichte.  

Autor: mod

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