Literatur

Neuer Roman "Der sterbende Mann" von Martin Walser

Altersnarrsinn: Der schreibbesessene Martin Walser veröffentlicht seinen neuen Roman "Ein sterbender Mann" . Und schert sich nicht um literarische Glaubwürdigkeit oder Realismus.

Man muss die Widmung in diesem Roman ernst nehmen. Denn Thekla Chabbi, eine Sinologin, die Martin Walser – er weiß es noch ganz genau – am 14. Januar 2014 in Heidelberg kennenlernte, hat ihn nicht nur auf das Suizidforum im Internet gebracht, das in dem Text eine große Rolle spielt – nicht von ungefähr lautet sein Titel "Ein sterbender Mann". Thekla Chabbi, 48, in früheren Zeiten einmal die Ehefrau des Schlagersängers Guildo Horn, ist auch für die todesverliebte Figur der Aster alleinverantwortlich, wie Walser eben in einem Interview mit der "Welt" kundgetan hat: Aus einem aus Zwecken der Recherche begonnenen Mail-Verkehr entwickelte sich die Geschichte von Theo Schadt, einem weiteren der zahlreichen Walser’schen Lebensverlierer, organisch weiter. Auch das wirklich schön erzählte Kapitel, in dem sich Sina Baldauf alias Aster auf die Suche nach ihren algerischen Wurzeln macht, stammt mutmaßlich von Thekla Chabbi. Nichts Schöneres, schwärmt der 88-jährige Schriftsteller, als Autor immer noch ein großer Liebender, als eine derartige Genese.

Natürlich bleibt "Ein sterbender Mann" ein Roman, der aus dem unerschöpflichen Worterfindungsquell des literatur- und schreibbesessenen Alten vom Bodensee stammt. Eine Mauer aus Wörtern gegen jede Art Wirklichkeit zu errichten, wie es der gescheiterte Unternehmer Theo Schadt, 72, von sich behauptet: Das ist ja immer auch die Spezialität seines Schöpfers gewesen. In "Ein sterbender Mann" treibt dieser es besonders toll: Wie alle Figuren sich am Ende auf dem Reißbrett ihres Erfinders zusammenfügen und jede plötzlich mit jeder zusammenhängt, in zwei Fällen sogar identischerweise: Das ist schon ein dreistes Erzählerstück, eine handwerkliche Übertreibung, die man einem Schriftsteller mit so vielen tausend und abertausend Seiten im Rücken gern als Altersnarrsinn durchgehen lässt. Das gilt ebenso für die überaus lockere Verschnürung der Motive und die unbekümmerte Handhabung unterschiedlicher Stilelemente wie Briefroman, Lyrik (oh Schreck), Erzählung, Aphorismus und, nicht zu knapp, Satire.

Im Zentrum aber steht, wie stets bei Walser, eine Liebesgeschichte. Als Theo Schadt, nach seinem Bankrott Kassierer im Tangoutensiliengeschäft "Terpsichore" seiner Frau, der von ihm so genannten "göttlichen Iris", einer Kundin, die eben ganz besondere Stilettos (9,5 Zentimeter!) erworben hat, aus inferiorer Sitzposition in die Augen schaut, ergeht ein greller Blitz von oben. Dieser metaphysischen Lichterscheinung kaum standhaltend, verlässt Theo sofort den Laden, wankt in eine Gaststätte und dann nach Hause. Die Folgen dieses Einschlags sind, es kann nicht anders sein, dramatisch: Nach 38 Jahren trennt sich Theo von seiner angebeteten Gattin und zieht sich in eine einsame Wohnung zurück, in der er seinem Schreibdrang hemmungslos frönen kann: Seine werbenden Briefe und bald Mails an Sina kreuzen sich mit den Chats im Suizidforum, wo er sich auf eine Kandidatin mit irreversiblem Todeswunsch kapriziert hat, jener Aster eben. Ob die Enttäuschung des erfolgreichen Nebenerwerbsliteraten Theo Schadt über den Geschäftsgeheimnisverrat seines einstigen Busenfreundes Carlos Kroll – überdies ein "richtiger" Dichter, der schwerverkäufliche Bände mit Titeln wie "Lichtdicht", "Leichtlos" oder "Kopftau" produziert – ein hinreichender Grund dafür ist, aus dem Leben zu scheiden, wagt nicht nur Aster zu bezweifeln. Also muss noch etwas Handfestes her: ein Darmkrebs, der dem Patienten unbehandelt nur noch eine karge Lebensfrist lässt.

Um die Stimmigkeit des Plots geht es dem Autor in der Tat zuletzt. Verliebt in seine Sprachmächtigkeit, lässt er Theo Schadt / Franz von Moor (Theos Internetpseudonym, klar, mindestens nach Schiller) und mit ihm im intimen Bund Sina Baldauf /Aster über Sterben und Leben delirieren, dass es zumindest ihm selbst eine wahre Freude gewesen sein muss. Von der "Suzidal-Referentin" bis zur "Sina-Entzündung", von der "Krawattenfarbexplosion" bis zur "Boulevard-Schickse" reicht das Spektrum der Walser-Wortschöpfungen – ganz besonders brillieren Theo und die andere in aparten Unterzeichnungs-Pirouetten: "Ihr Erlebender" heißt es da, oder "ein dir hinreichend Bekannter" oder "jener Theo". Sein Eingeständnis, das er im Gegensatz zu seiner sonstigen Bekenntnisfreude für sich behält, ist so etwas wie das poetologische Programm des Romans: "Dabei weiß er gar nicht, was er ihr schreiben sollte, könnte, dürfte, müsste. Nur schreiben, schreiben, schreiben. Nur an sie, sie, sie. Bis zur Bewusstlosigkeit. Das wäre die Erlösung, wenn er schriebe, bis er zusammensänke, wenn möglich für immer."

Schreiben hilft: zumindest dem insolventen Patenthändler Theo, der sich wie an eine übergeordnete Instanz zuweilen an einen "Herrn Schriftsteller" wendet – wer auch immer dieser Anonymus sein mag. Nachdem Sina Baldauf ihm zu erkennen gegeben hat, dass sie nicht nur seine Schreib-, sondern auch seine Liebeswut (was bei ihm in eins fällt) zu erwidern bereit ist, wird er von neuer Lebensgier erfasst, während sich in seiner Umgebung tragischerweise ein Todesfall an den nächsten reiht – von fremder wie eigener Hand. Spätestens hier hat Martin Walser den Pfad der poetischen Glaubwürdigkeit verlassen und betritt das Feld der Kolportage. Was bleibt, sind Sätze wie dieser: "Von mir zu dir reicht keine Sprache. Von dir zu mir rast jeder Sturm." Das ist allerhand für einen Mann von 88 Jahren.

Martin Walser: Ein sterbender Mann. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 286 Seiten, 19,95. Lesung: 14. Februar, 20 Uhr Großes Haus des Freiburger Theaters. Es moderiert Hans- Martin Gauger.

von Bettina Schulte
am Sa, 16. Januar 2016 um 00:00 Uhr

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