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Hochschwarzwald Tourismus GmbH

Wie sich Hochschwarzwälder Uhrmacher einst in England behaupteten

  • Mi, 26. Juni 2019, 10:17 Uhr

Anzeige Vor 200 Jahren begannen Uhrenmacher aus dem Schwarzwald den Londoner Markt zu erobern. Die Spiegelhalters erlangten sogar Legendenstatus - weil sie einen einmaligen Deal platzen ließen.

Das Geschäft der Spiegelhalters in London. Foto: Klostermuseum St.Märgen
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Die Herren mit dem verlockenden Angebot betreten den Uhrenladen an der 81 Mile End Road in feinen Anzügen und mit großem Selbstbewusstsein. Sie sind es gewohnt, das zu bekommen, was sie wollen. Doch der Inhaber lehnt in gebrochenem Englisch ab. Einige Tage später kehren die Herren zurück und setzen noch einen drauf. Sie wollen diesen Laden um jeden Preis, denn er steht ihren Plänen im Weg, das größte und prunkvollste Kaufhaus zu errichten, das die Londoner je gesehen haben. Diesmal wird der deutsche Sturkopf schwach werden, da sind sie sich sicher. Der Sturkopf heißt Leo Spiegelhalter, geboren im Schwarzwald und Londoner Uhrenhändler in der vierten Generation.

Ziemlich exakt hundert Jahre zuvor, um 1820, packt Georg Spiegelhalter, Bauer auf dem Kohlplatzhof zwischen Neukirch und St. Märgen, seinen Rucksack und bricht auf zu seiner ersten Reise nach England. Seine Fracht besteht aus Holzuhren, die er in den Wintermonaten bei Kerzenlicht angefertigt hat. Aus Erzählungen hat er schon viel über sein Reiseziel gehört, dennoch verschlägt es ihm, als in London ankommt, die Sprache. London ist die Welthandelsmetropole schlechthin. Als einfacher Bauer aus dem Schwarzwald kommt man sich vor wie auf einem fremden Planeten.

Schwer beladen schleppt sich der Mann, der sonst auf Feldwegen unterwegs ist, durch die pulsierenden Straßen der Millionenstadt. An der einen oder anderen Ecke vernimmt er einen vertrauten Dialekt. Er ist nicht der einzige Uhrenmacher aus seiner Gegend, der in London das große Geschäft wittert. Ihre Erwartungen werden nicht enttäuscht. Die "Wooden Black Forest Clocks" kommen bei der Laufkundschaft gut an.

Vom einfachen Bauern zum Handlungsreisenden
Aus Georg Spiegelhalter wird ein Handelsreisender, der immer, wenn der Rucksack leer ist, wieder auf den Kohlplatzhof zurückkehrt, wo seine Frau auf ihn wartet und sich um die Kinder sorgt. Der Nebenerwerb mit den Uhren erweist sich bald als lukrativer als der Haupterwerb auf dem Hof, und es ließen sich in London noch weit höhere Gewinne erzielen, wenn der umständliche Transport nicht wäre. 1928 eröffnet Spiegelhalter in Whitechapel eine Werkstatt. Der Stadtteil im Londoner Osten ist eine deutsche Enklave. Die deutsch-britischen Beziehungen florieren im 19. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt dank Prinz Albert, dem Ehemann von Queen Victoria, der wiederum dazu beiträgt, das Königreich auf Fortschrittskurs zu halten.

Zur selben Zeit wird Whitechapel zur zweiten Heimat der Spiegelhalters. Georgs Söhne, Schwäger und andere Verwandte bringen sich in der Manufaktur das Uhrenhandwerk bei. Einen besonderen Eifer legt Sohn Otto an den Tag, der 1871, im Jahr der deutschen Reichsgründung, erstmals nach London reist, und neun Jahre später den Umzug in ein vierstöckiges Haus in der 81 Mile End Road organisiert. In den unteren beiden Etagen des neuen Domizils richtet er einen Laden ein, die zwei Stockwerke darüber bewohnt er zusammen mit seiner Frau – und den fünfzehn Kindern.

Obwohl der Wohlstand wächst, bleibt das Paar bescheiden und leistet sich kein Dienstpersonal.
Als Ottos sechster Spross, Sohn Leo, das Geschäft übernimmt, beginnt sich die Großwetterlage zu ändern. Durch Europa weht der Geist des Nationalismus. Auch in London, der Kapitale des Freihandels, begegnet man den deutschen Migranten nicht mehr mit gewohnter britischer Unvoreingenommenheit. 1911 führt das Königreich erstmals Einwandererkontrollen ein. Der Erste Weltkrieg vertieft den Graben zwischen den einst befreundeten Mächten. Leo lässt keinen Zweifel, welchem der beiden Länder er sich inzwischen stärker verbunden fühlt. Ein Jahr nach Kriegsende, als er heiratet, legt er seinen deutschen Nachnamen ab und nennt sich fortan Salter. Über dem Laden prangt aber weiterhin "Spiegelhalter’s".

Eine Frage der Familienehre

Und dann plötzlich winkt ihm der Deal seines Lebens. Soll er verkaufen oder nicht? Leo Salter, der Bauernsohn vom Kohleplatzhof, wäre auf einen Streich ein sehr reicher Mann. Weil er weiß, wie scharf die Herren in den feinen Anzügen auf seinen Besitz sind, könnte er sogar noch versuchen zu pokern und ihr Angebot nach oben zu treiben. Doch der Verkauf ist für ihn keine Frage des Preises, sondern eine der Familienehre.

Leo bleibt bei seinem Nein, die Herren in den feinen Anzügen müssen unverrichteter Dinge abziehen.
Ihr Kaufhaus, das "Wickhams", errichten sie trotzdem. Mit seiner barocken Architektur und den imposanten Türmen entsteht in der End Road eine Kathedrale des Konsums, in deren Mitte jedoch eine Lücke klafft, dort, wo weiterhin trotzig der vierstöckige Uhrenladen der Spiegelhalters steht, den der britische Schriftsteller Ian Nairn später als "einen der besten visuellen Witze Londons" bezeichnen wird. Mehr noch: Er sei "ein beständiger Triumph für den kleinen Mann, die Kerle, die sich nicht anpassen werden." Für Sturheit – im positiven Sinne – bürgert sich im London der 1920er-Jahre ein neues Verb ein: "to spiegelhalt".

1982 schließt der legendäre Uhrenladen in der End Road. Das Prunkkaufhaus "Wickhams" hat er damit um glatte zehn Jahre überdauert. Als 2005 der Abriss angeordnet wird, kommt es erneut zu einem Spiegelhalter-Moment. In einer Petition sprechen sich fast dreitausend Londoner erfolgreich für den Erhalt des Minimonuments aus. Zum zweiten Mal hat Sturheit gesiegt.

Für Leo Spiegelhalter, den Mann, der für einen der besten Witze Londons sorgte, hält das Leben am Ende eine tragische Pointe bereit. 1940 stirbt seine Frau Adelaide. Im selben Jahr fällt Sohn Douglas in Dunkirchen, wo er auf Seiten der Briten gegen Hitler-Deutschland kämpfte. Die beiden Schicksalsschläge setzen Leo zu. Zeugen berichten, wie er in einer U-Bahnstation verwirrt mit Fünf-Pfund-Noten um sich wirft. Geld ist nicht alles. Vielleicht war das die Botschaft.
Mehr Geschichten aus dem Hochschwarzwald gibt es auf hochschwarzwald.de.

Dossier: Hochschwarzwald

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