Ausstellung in Mulhouse

Wie wir unabsichtlich für Google arbeiten

Die sehenswerte Ausstellung "Algotaylorism" in der Kunsthalle Mulhouse entführt in die Welt der unbeabsichtigten Arbeit.

Durch die Zahlenreihe verläuft ein Strich wie ein gekrümmter Horizont, die Ziffern sind verzerrt. Schwer zu sagen, ob das eine 3 oder eine 5 ist. Doch genau darum geht es. Immer wieder begegnen im Netz diese Rätsel – so genannte Captchas –, beim Einrichten des E-Mail-Kontos, beim Online-Banking, Registrieren im Kommentarbereich. Mal sind es derangierte Buchstabenfolgen, die entziffert werden wollen, mal Bilderrätsel, bei denen wir alle Motive anklicken sollen, auf denen Zebrastreifen, Berge oder Schaufenster zu sehen sind – manchmal ist es nur die Aufforderung, einen Haken zu setzen in ein Feld mit der Aussage: "I’m not a robot". Dann erhalten wir Zutritt. Aber nur dann.

Die Künstler Sebastian Schmieg und Silvio Lorusso fanden das schon vor Jahren seltsam. "Liebes Google", schrieben sie an den Internet-Konzern, "wir fragen uns, wieviel Zeit wir damit verbringen, zu beweisen, dass wir keine Roboter sind". Um es herauszufinden, sammelten sie zwischen 2011 und 2016 jeden Captcha, der ihnen begegnete – das Kurzwort steht für einen vollautomatischen Test zur Unterscheidung von Computern und Menschen zum Schutz vor Bots. Die gelösten Aufgaben druckten sie auf Leporellos aus, die sich in der Kunsthalle Mulhouse als Intro zur Ausstellung "Algotaylorism" auffächern.

Der Titel – gebildet aus Algorithmus und Taylorismus – lässt bereits ahnen: Hier geht es um die Organisation von Arbeit in Zeiten globaler Digitalisierung. Was im ersten Moment spröde klingt und als Ausstellungssetting mit dem Charme eines Großraumbüros daherkommt, erweist sich beim Parcours entlang der Arbeiten von gut einem Dutzend Kunstschaffenden und Künstlerkollektiven als so packender wie beunruhigender Essay über das Ende der bezahlten Arbeit, wie wir sie kennen. Kuratiert wurde die Schau von Aude Launay. Die Philosophin beschäftigt sich mit dem Einfluss des Internets auf Kunst und Gesellschaft. Die Idee zur Ausstellung sei ihr gekommen, sagt sie, als mitten in der Nacht im Browserfenster ihres Rechners eine Nachricht aufpoppte. "Fast jeder Ort kann ein Büro werden", hieß es. "Gehen Sie raus und arbeiten Sie heute für eine Stunde von einem anderen Platz aus." Das interpretierte Launay als Aufforderung zur Entfesselung ihrer Arbeitskraft zu jeder Zeit an jedem Ort.

Frederick Winslow Taylor, der mit seiner Theorie radikaler Arbeitsteilung als Architekt der Entfremdung im Spätkapitalismus galt, schrieb 1911: "Früher stand der Mensch an erster Stelle, in Zukunft wird es die Maschine sein". Heute wissen wir: Der technologische Fortschritt hat zur Verschmelzung geführt. Drastisches Beispiel ist der mobile Arbeitsplatz als nur von außen zu öffnender Käfig, den Amazon-Chef Jeff Bezos 2016 für seine Lagerarbeiter patentieren ließ und erst nach massiven Protesten zurückzog. Simon Denny hat aus dem mehrere tausend Seiten starken Patent zwei Wandobjekte geschnitzt, die wie Masken eines dystopischen Rituals in den Raum starren. Sie überblicken die zwölf Schreibtische umfassende Installation "Human Computers" des Pariser Medienkunstkolletivs RYBN.ORG, auf denen in Dokumenten und Videoclips eine komplexe Geschichte der Wertschöpfung an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine erzählt wird. Schmiermittel ist, was Launay "Machinic Illusion" nennt. Denn viele Aufgaben, die scheinbar von Computern erledigt werden, sind das Resultat von oft verdeckt geleisteter menschlicher Arbeit, sei es durch globale Mikrojobber mit Stundenlöhnen im Cent-Bereich oder durch die Nutzer selbst, die Unternehmen wie Google etwa mit der Lösung von Captchas unbeabsichtigt – und unbezahlt – helfen, Texte für Google-Books zu erfassen oder die KI des Unternehmens zu trainieren.

Dass wir auch dann arbeiten, wenn wir das Gefühl haben, nicht zu arbeiten, und so, ohne es zu wollen, pausenlos zur Akkumulation des Kapitals von Megakonzernen beitragen, deren Macht wir uns immer weniger entziehen können, ist kein angenehmer Gedanke. Beim Rundgang ist er ständiger Begleiter und spricht selbst aus so poetischen Arbeiten wie Michael Mandibergs Remake des Chaplin-Klassikers "Modern Times", für das der Franzose auf einer Crowdsourcing-Plattform 182 digitale Leiharbeiter aus 25 Ländern castete. Am Ende der sehenswerten Schau laden ein paar sprechende KI-Kissen zum entspannten Dialog über die Möglichkeiten, dem System doch noch zu entkommen.

La Kunsthalle Mulhouse, Rue de la Fonderie 16, Mulhouse. Bis 26. April, Mi bis Fr 12–18, Sa bis Di 14–18 Uhr.
von Dietrich Roeschmann
am So, 23. Februar 2020 um 19:15 Uhr

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