Der Nazi kann auch anders

Juli Zehs Roman "Über Menschen " ist eine Art Fortsetzung von "Unterleuten" in Zeiten von Corona /.

Auf dem Land sieht man manches anders als in der Stadt: gelassener, pragmatischer. Jedenfalls im Osten, wo die Erinnerung an Solidarität unter Nachbarn noch lebendiger ist als die Gier und das Social Distancing der urbanen Eliten. Viele ziehen deshalb raus aus Berlin in die Mark Brandenburg: Von hohen Mieten vertriebene Pendler, hippe Kreative, Aussteiger, die genug haben von hauptstädtischer Hektik und Burnouts. Juli Zeh siedelte 2007 ins Dreihundert-Seelen-Kaff Barnewitz um und schlug daraus auch als Autorin Kapital: "Unterleuten" (2016), 800 000 Mal verkauft und als ZDF-Dreiteiler erfolgreich verfilmt, ist ein großer Gesellschaftsroman über westdeutsche Investoren und ostdeutsche Stasi-Veteranen, Pferdenarren und Vogelfreunde, die alte Rechnungen zu begleichen haben und sich doch zusammenraufen.

"Über Menschen" zeigt sich schon im Titel als eine Art Fortsetzung oder Antwort auf "Unterleuten"; der nietzscheanische Übermensch spukt ebenso darin herum wie der überhebliche bürgerliche Humanismus. Bracken ist, ähnlich wie Unterleuten, ein fiktives Dorf in Brandenburg, wo die letzten Kampfläufer brüten und Neonazis zum Ortsbild gehören. Die Zeiten freilich haben sich geändert: Die Corona-Pandemie trennt Paare und Familien und spaltet die Leute mehr als die alten Ost-West-Geschichten. Dora, 36, floh vor dem Virus nach Bracken. Als Tochter eines erzliberalen Chefarztes an der Charité und smarte Webdesignerin lebte sie gut und gerne in der Berlin-Blase. Aber irgendwann wuchs ihr Unbehagen an der Arroganz der Kreativen und Gutmenschen, ihren "Empörungsimperativen" und Rechthaberdiskursen; hinzu kam eine diffuse Sehnsucht nach einem Leben näher an der Natur, an Menschen und Tieren wie ihrem Hund Jochen. Dass Dora in der Agentur Sus-Y coronabedingt gefeuert wurde, ihr Freund vom Klima-Apokalyptiker und Greta-Jünger nahtlos zum autoritären Corona-Katastrophiker konvertierte, machte ihr den Neuanfang leichter. Zuletzt wollte Robert ihr sogar Spaziergänge mit dem Hund und Lockerungsübungen im Querdenken als latent faschistischen Verstoß gegen die Corona-Etikette untersagen.

Bracken ist kein Landlust-Idyll. Gestrüpp und Schösslinge ohne Maschinen roden, Flurstücke umgraben, ohne Auto Saatkartoffeln und Dünger einkaufen: Da kann man als verwöhnte Tochter aus gutbürgerlichem Haus schon ins Schwitzen kommen. Und die herzlich-rauen Dörfler sind auch nicht immer eine Hilfe. Da gibt es etwa zwei schwule Gesteck-Designer, von denen einer AfD wählt, der andere sich über den rechten "Abschaum" in Feinripp-Unterhosen lustig macht, da gibt es die tätowierte alleinerziehende Mutter, die wie Cindy von Marzahn redet, aber mit ihrem Alles-wird-gut-Optimismus Dora ganz demütig macht.

Schwieriger ist da schon der Nachbar, der sich Dora an der Gartenmauer fröhlich als "Dorf-Nazi" vorstellt. Grote saß schon mal im Knast, macht rassistische Witze über "Pflanzkanaken" und grölt mit seinen Kameraden das Horst-Wessel-Lied. Aber Grote kann auch anders. Dann schnitzt er mit der Motorsäge Figuren und Möbel aus Holz, die er Dora heimlich ins Haus stellt, fährt sie in seinem Pick-up zum Baumarkt oder kümmert sich rührend um seine Tochter, eine verwahrloste Pippi-Langstrumpf-Göre. "Großstadttante" und Dorfnazi: Die Nachbarschaftshilfe in Bracken ist ein Modell dafür, wie Menschen verschiedener Gesinnung und Gesittung menschlich miteinander umgehen können – ohne Moralkeule und Vorurteilshammer. Wenn man genau hinschaut und sich für den anderen öffnet, ist niemand mehr der, für den man ihn hielt.

Zeh riskiert einiges mit ihrem netten Neonazi, aber als politisch engagierte Intellektuelle ist sie Shitstürme und Hassmails gewöhnt. Die gelernte Juristin protestiert und prozessiert gegen Abhörung und Überwachung. Vor einem Jahr musste sie Prügel wegen eines Manifests gegen die restriktive Corona-Politik der Regierung einstecken, vor kurzem stoppte sie als brandenburgische Verfassungsrichterin das Paritätsgesetz der Landesregierung. Dora und wohl auch Zeh hadern mit den Aktivisten und Alarmisten, die mit ihrer Dauerempörung, ihrem Anspruchsdenken und ihrem selbstgerechten Reinheitsfuror Diskussionen vergiften und das Zusammenleben im Alltag erschweren.

"Über Menschen" war schon fertig, als das Virus kam; danach schrieb Zeh den Roman komplett um. Aber so Kluges und Kontroverses sie auch über aktuelle Probleme von Lockdown, Lockerung und Black-Lives-Matter-Bewegung sagt: Die ständigen Analysen und Reflexionen bekommen dem Roman nicht unbedingt gut. Manchmal liest er sich fast wie ein politischer Essay. Aber literarischen Ehrgeiz hat sich Zeh eh schon lange abgeschminkt. Sie versteht sich als politische Unterhaltungsschriftstellerin, vielleicht auch als Satirikerin, und so muss man "Über Menschen" wohl auch lesen. Es ist kein großer Wurf wie "Unterleuten", nicht so episch ausladend, sorgfältig und liebevoll bis ins Detail ausgearbeitet; dafür gibt es zu viel Glückskeksweisheiten, Winke mit dem Zaunpfahl und am Ende auch ein bisschen Kitsch.

Dennoch: "Über Menschen" ist ein gutes, unterhaltsames, wichtiges Buch mit einer so schlichten wie versöhnlichen Botschaft: Auch politische Gegner und Feinde können und müssen menschlich miteinander umgehen. "Wieviel Abstand braucht eine Linksliberale zum nächsten Neonazi, um in Frieden leben zu können?" fragt sich Dora. Steffen, der Gesteckdesigner, gibt ihr bei Grotes Beerdigung die Antwort: "Er war ein Arsch. Aber einer von uns."

Juli Zeh: Über Menschen. Roman. Luchterhand Verlag, München 2021. 416 Seiten, 22 Euro.
von Martin Halter
am Sa, 20. März 2021

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