Kino-Interview

Hans Steinbichler über die Aktualität von Anne Frank

TICKET-INTERVIEW: Hans Steinbichler über die Aktualität des Flüchtlingsschicksals von Anne Frank.

Das Schicksal der 15-jährigen Jüdin Anne Frank berührt, schockiert und beschämt bis heute. Nach etlichen Hörspielen, Theaterstücken, TV-Fassungen und einem großen Hollywoodfilm von 1959 ist die Zeit wieder reif, "Das Tagebuch der Anne Frank" auf die Leinwand zu bringen. Für die siebte Verfilmung wurde Hans Steinbichler (49) verpflichtet, der mit Filmen wie "Hierankl" (2003), "Winterreise" und "Das Blaue vom Himmel" mehrfach prämiert wurde. Markus Tschiedert traf ihn zum Interview.

Ticket: Anne Franks Geschichte wurde schon mehrmals verfilmt. Wie sind Sie dazu gekommen?
Hans Steinbichler: Der Anne-Frank-Fonds hatte vor, die Rechte für eine weitere Verfilmung zu vergeben, doch sie standen vor der Frage, wer sie umsetzen soll. Der Fonds dachte weniger an eine teure Hollywoodproduktion, sondern wollte, dass die Geschichte wieder zu ihren Wurzeln geführt wird. Schließlich geht es um eine deutsche Familie aus Frankfurt.
Ticket: Also wurde ein deutscher Regisseur gesucht?
Steinbichler: Wenn man als Deutscher diese urdeutsche Geschichte erzählt, bringt man damit ein hohes Maß an Vorbelastung mit. Ich habe immer noch eine gewisse kollektive Scham das Thema betreffend und würde sogar so weit gehen, dass ich eine Schuld fühle, obwohl ich den Nationalsozialismus gar nicht miterlebt habe. So entsteht eine ganz andere Art, dieser Geschichte zu begegnen, als etwa Steven Spielberg, der sie als amerikanischer Jude erzählen würde.
Ticket: Spürten Sie damit auch einen gewissen Druck?
Steinbichler: Würde man ihn spüren, könnte man gar nicht agieren und arbeiten. Aber es ist so, dass mit Argusaugen darauf geschaut wird, wenn ein Deutscher einen solchen Stoff verfilmt. Ich glaube, dass man mit einer gewissen Schärfe und Unnachgiebigkeit auf den Film blicken wird.
Ticket: Von Spielberg würde man vermutlich die Opfer-Sicht erwarten. Als deutscher Regisseur nimmt man eher die Täter-Sicht ein...
Steinbichler: Diese Geschichte spielt in den Niederlanden und handelt von einem Mädchen, das sich dezidiert von den Deutschen abgewandt hat und sein Tagebuch auf Niederländisch geschrieben hat. Ich fand diese Aufgabe für mich als Deutscher, der katholisch ist, aus Bayern kommt, also eine urdeutsche Identität hat, sehr interessant.
Ticket: Wie wichtig finden Sie es, dass das Kino den Nationalsozialismus immer wieder thematisiert?
Steinbichler: So sehr es manche Leute nerven mag, so notwendig ist es. Oft steckt der Reflex dahinter zu behaupten, dass man schon etwas verstanden und gelernt hat. Mir hat aber die Beschäftigung mit Anne Frank gezeigt, wie belastend es ist, wenn man sich nur einem Schicksal nähert. Wie soll man da sechs Millionen Menschen hochrechnen? Pro Kopf einen Film? Man muss sich immer wieder damit auseinandersetzen!
Ticket: Strebten Sie auch bei Ausstattung und Kostümen historische Genauigkeit an?
Steinbichler: Mit beiden Abteilungen hatte ich besprochen, wie wichtig es mir ist, die Geschichte ins Jetzt zu ziehen, um sie zugänglich zu machen. Anne ist für mich ein Mädchen von heute minus Smartphone. Ihre Empfindungen, die Konflikte mit den Eltern und das sexuelle Erwachen sind Dinge, die ich von meinen eigenen Kindern kenne.
Ticket: Womit sich heutige Jugendliche sehr wohl mit Anne Frank identifizieren können...
Steinbichler: Es ins Jetzt und Heute zu ziehen, war für mich die Begründung, Annes Geschichte neu zu verfilmen. Es ist die eines Flüchtlings und bietet die Chance, Leute zu erreichen, die sich erst mal nicht mit Politik oder Geschichte beschäftigen wollen. Sie sehen einen Film über ein Mädchen, das ausgegrenzt und dann ermordet wurde, und denken hoffentlich, dass sich so etwas nie mehr wiederholen darf.


















von tsc
am Fr, 04. März 2016

Info

DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK

Regie: Hans Steinbichler
Mit Lea van Acken, Ulrich Noethen, Martina Gedeck, Stella Kunkat u.a.
128 Minuten, frei ab 12 Jahren

Die Story
Anne (van Acken) hat ein Tagebuch, in das sie ihre Wünsche und Ängste schreibt. Als die Nazis 1942 die Niederlande besetzen, ist die jüdische Familie Frank in Lebensgefahr. Deshalb sucht der Vater (Noethen) ein Versteck und findet es in einem Amsterdamer Hinterhaus.  

Autor: bz

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