Sous la Surface - Ein inszeniertes Konzert
Werkstattkonzert, Ensemble Choer3, Kammerchor Cantoque, Vokalensemble Philippe Koerper. Leitung: Abélia Nordmann. Anschließend Künstlergespräch SOUS LA SURFACE - Ein inszeniertes Konzert
Fr. 2. Juni 2023, 20 Uhr - Pauluskirche, Freiburg i.Br. (D) - Werkstattkonzert mit Künstlergespräch
Sa. 3. Juni 2023, 20 Uhr - Église protestante Saint-Pierre-le-Jeune, Strasbourg (F) - Konzert
So. 4. Juni 2023, 18 Uhr - Theodorskirche Basel (CH) - Konzert
So. 2. Juli 2023, 17 Uhr - Sönghátíð í Hafnarborg Songfest, Hafnarfjörður (IS) - Konzert
PROGRAMM
Frank Martin (1890 - 1974, CH): Messe pour double choeur a cappella
Philippe Koerper (* 1986, F/CH): Sous la surface. Six tableaux (UA)
MITWIRKENDE
Ensemble Choeur3 (D/F/CH), Kammerchor im Dreiland (30 Stimmen)
Cantoque (IS), Isländisches Vokalensemble (12 Stimmen)
Philippe Koerper (F/CH), Saxophon, Komposition, Tonband
Philippe Koerper & Abélia Nordmann, Konzept
Abélia Nordmann (CH/F/D), Dramaturgie/Mise en espace
Barbara Schnetzler (CH), OEil extérieur
Abélia Nordmann (CH/F/D), Künstlerische Leitung
Eine Messe und eine Uraufführung als inniger Appell an die Menschlichkeit: Frank Martin schrieb vor hundert Jahren eines der grössten Meisterwerke der Schweizer Musikgeschichte. Sein ökumenisches Friedensgebet, die «Messe pour double choeur a cappella», möchte das Ensemble Choeur3 über die Grenzen der Schweiz hinaus und in der europäischen Ferne erlebbar machen - und das Werk von einer ganz neuen Perspektive aus beleuchten. Dazu beauftragte es den Saxophonisten und Performer Philippe Koerper, unter die Oberfläche der Komposition zu blicken und Zwischenstücke zu entwickeln, die die atemberaubende Schönheit von Frank Martins Klangarchitektur spiegeln und erweitern und einen Resonanz- und Spielraum für die musikalische Essenz der Messe bilden. Inspiriert von der Weite Islands entsteht so in einer einzigartigen Kooperation zweier hochkarätiger europäischer Ensembles - dem hiesigen Kammerchor Ensemble Choeur3 und dem Ensemble Cantoque aus Island - ein ganz neuer Blick auf den vielleicht wichtigsten Meilenstein der Schweizer Chormusik.
VIERZIG JAHRE IN EINER SCHUBLADE: EINE «SACHE ZWISCHEN GOTT UND MIR»
Frank Martin, 1890 als jüngstes von zehn Kindern in Genf geboren, schrieb als Sohn eines calvinistischen Pfarrers eine katholische Messe. Die fünfsätzige Komposition entstand zwischen 1922 und 1926; sie zeichnet sich durch impressionistisch bis modal gefärbte Harmonik und hohe emotionale Wirkung in einem Spektrum zwischen zarter Feinheit und vokal-orchestralen Klangmomenten aus. Es vergingen vier Jahrzehnte, bis die »Messe pour double choeur a cappella« der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, denn - Martin wollte seine Messe gar nicht aufführen lassen: «En fait, je ne désirais nullement qu'elle fur exécutée, craignant qu'on la juge d'un point de vue tout esthétique. Je la voyais alors comme une affaire entre Dieu et moi.» 1 1963 entdeckte der Kantor Franz W. Brunnert die Doppelchor-Messe zufällig in einem Werkkatalog und brachte das Stück im selben Jahr in Hamburg zur Uraufführung. Es gehört seitdem zu den beliebtesten Chorwerken des 20. Jahrhunderts.
1 Martin, Maria (Hrsg.): À propos de... Commentaires des Frank Martin sur ses oeuvres, Neuchâtel 1984, S. 11
ORIGINALMANUSKRIPTE
Die Musik- und Textmanuskripte der «Messe pour double choeur a cappella» befinden sich heute in der Paul Sacher Stiftung am Münsterplatz in Basel. Das macht die Aufführung der Messe durch das Ensemble Choeur3 als Dreiländer-Kammerchor mit Sitz in Basel zu einer besonderen Aufgabe, die um den kostbaren Einblick in die Originalschriften bereichtert wird.
URAUFFÜHRUNG
Frank Martins Messe steht in ihrer Intensität für sich selbst. Ihre Dauer - vierzig Minuten - wirft die Frage auf: Welche Betrachtung, welche Art von Musik darf man ihr im Konzert hinzufügen? Der renommierte Saxophonist und Performer Philippe Koerper - im Elsass und im Ausland bekannt mit seinem Ensemble L'Imaginaire, das seit jeher Auftragskompositionen vergibt und für die Uraufführung experimenteller Werke verantwortlich zeichnet - komponiert für die «Messe pour double choeur» Zwischenstücke, Interludien, die als Klammern zwischen oder als Orgelpunkte in den Sätzen stehen. Sie öffnen neue Fenster, erweitern den Horizont und erschaffen eine Art spiegelbildlicher Musik, die ins Innere des Schreibens eintaucht und das Abbild des Gehörten von unten betrachtet. Die klanglichen Räume - insgesamt ca. 25 Minuten - werden live kreiert und entstehen jedes Mal neu. Philippe Koerper inspiriert dabei die Weite der isländischen Insel und die durch die Kooperation mit Cantoque entstehende Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Musik Islands.
KOOPERATION
Das Ensemble Choeur3 verbindet eine langjährige Freundschaft mit drei isländischen Ensembles. Abélia Nordmann arbeitet seit 2014 in verschiedenen Konstellationen in Reykjavík; 2019 reiste das Ensemble Choeur3 für die Entwicklung und Uraufführung der Performance «Composition for a Landscape» der dänischen Komponistin Marie Hauge Jensen zusammen mit dem South Icelandic Chamber Choir nach Húsafell und Reykjavík - mit schweizerisch-isländischen Werken und Volksliedern im Gepäck.
Frank Martins einzigartige Messe wird trotz ihrer Berühmtheit selten aufgeführt, weil ihre Doppelchörigkeit mit zahlreichen Divisi einen stimmstarken und sensiblen Chorklang verlangt. Das Ensemble Choeur3 freut sich sehr, dass es gelungen ist, das Ensemble Cantoque für das Projekt zu gewinnen und in einer so exzellenten Besetzung zu einem außerordentlichen musikalischen Erlebnis machen zu können. Die professionellen Sängerinnen und Sänger von Cantoque kommen aus der Alten Musik und verstärken die Stimmen des Ensemble Choeur3 so, dass beide Chöre der Klanglichkeit der Messe gebührend begegnen können - groß, schlicht, farbenreich. Die gemeinsame Reise führt das Projekt über Freiburg nach Strasbourg sowie Basel und endet mit einem Konzert in Island im Rahmen des namhaften Festivals »Sönghátíð í Hafnarborg« in Hafnarfjörður bei Reykjavík, zu dem das Projekt SOUS LA SURFACE eingeladen wurde.
MISE EN ESPACE, SCHREIBWEISE DER ZWISCHENSTÜCKE, TEXTMATERIAL
Ein Tisch, ein Stuhl, ein Lichtkegel; ein schreibender Mensch; das Geräusch eines Bleistifts auf Papier; ein Bruchstück, eine Erinnerung, eine Vielzahl von Linien, die sich zu den fünf Sätzen einer Messe verdichten. Frank Martin hatte seine «Messe pour double choeur a cappella» vierzig Jahre lang geheim gehalten; sie war sein intimes Gebet, seine ganz persönliche «Sache zwischen mir und Gott». Hundert Jahre nach ihrer Entstehung begegnen die beiden Vokal-Ensembles und Philippe Koerper ihr mit ungewöhnlichem Werkzeug: Mit einem analogen Tonband und mit Tagebucheinträgen der Studentin Etty Hillesum (1914-1943) tauchen sie ins Innere des Schreibens, ins Innere des Schreiens ein. Vierzig Stimmen füllen den Raum, verschlucken den Tisch, singen die überwältigende Schönheit der impressionistisch gefärbten Klangsprache Martins. Zwischen den Sänger*innen bewegt sich ein Saxophonist: er verarbeitet das Motivmaterial, nimmt live auf, spielt das Gesungene mit dem alten Tonbandgerät rückwärts oder verlangsamt ab, öffnet die Tür zu einer anderen Art des Hörens, und über der sich auswallenden Zeit erklingen die brennenden Zeilen einer jungen Frau, wie ein dringendes Geheimnis, das in die Welt muss.
Straßburg - Frankreich | Cloître Saint-Pierre-Le-Jeune