Mit dem "Progress 200" in den Süden
OBERKIRCH Er war damals in den 1950ern der beliebteste und nach dem Fahrrad der am ehesten erschwingliche fahrbare Untersatz: Der Motorroller. Er ist das heimliche Symbol der Wirtschaftswunderjahre – und auffälligstes Stück einer Ausstellung über "Die 50er Jahre in Oberkirch" im dortigen Grimmelshausen-Museum.
Gleich zwei der Prachtstücke werden präsentiert: Ein "Strolch" mit 6,5 PS von 1953 und der "Progress 200" von 1957 mit 16,2 PS Leistung. Sie stehen auch für einen Abschnitt in der Geschichte eines der wichtigsten Unternehmen in der gesamten Ortenau, dem Automobilzulieferer PWO in Oberkirch-Stadelhofen, heute einer der Technologieführer in Sachen Sicherheits- und Komfortkomponenten für PKWs und einer der großen Arbeitgeber der Region.
Während des Zweiten Weltkriegs produzierte das Werk für die Wehrmacht, danach für die französische Armee. In den 1950ern schließlich wurden Bratpfannen, Hufnägel und Feldküchen hergestellt. Und Roller. 14 000 Stück insgesamt, bis man beim beginnenden Auto-Boom die Roller-Produktion nach Indien verkaufte. Sogar Rennen waren damals in den 1950ern mit dem Progress-Roller gefahren worden.
Der im Grimmelshausenmuseum ausgestellte "Progress 200" ist überdies ein ganz besonderes Fahrzeug. Es ist nämlich seit 1959 dauerhaft angemeldet und in Betrieb! Sein Besitzer Franz Dürr fährt es heute noch fast täglich und hält es tiptop gepflegt. Gekauft hat er es als Gebraucht-Roller im Jahr 1959 für 750 DM, knapp die Hälfte des Neupreises – beim damaligen Lohnniveau war das eine große Anschaffung. 1954 nach Ende seiner Ausbildung habe er 1,33 DM in der Stunde verdient, fünf Jahre später etwas mehr, erinnert sich der Rentner.
Bald noch dem Kauf rollerte er damit über den Gotthardt an den Lago Maggiore, zwei vollgepackte Koffer auf dem Gepäckträger festgeschnallt. Italien, der Süden – die "Reisewelle" folgte historisch auf die Fresswelle und war eng verknüpft mit dem Roller. Viele machten sich damals per Roller nach Italien auf: Gardasee, Comer See, gar Venedig und Florenz, Rimini und San Remo wurden angesteuert. Auch Mitbringsel solcher Reisen sind im Oberkirch ausgestellt, neben alten Röhrenradios, Single-Schallplatten von Freddy & Co und einem Siingle-Plattenspieler mit selbstgebautem Gehäuse! Man kann eine Lockenwicklermaschine von damals bewundert und ein Kleid aus Kunstfaser – Nylon war der letzte Schrei. Besonders apart: Ein Reise-Etui für Nylonstrümpfe!
Die Zeitläufe von damals werden gespiegelt in Zeitungsberichten, Werbung oder Kinoprogrammen: Tarzanfilme, Dick und Doof, Geierwally, Schwarzwaldmädel, O. W. Fischer und Maria Schell etc. Oberkirch hatte damals zwei Kinos bei 6500 Einwohnern. Heute gibt es bei 20 000 Einwohnern kein Kino mehr dort
Die Besetzung durch eine französische Garnison wird thematisiert, und auch, wie aus den Besetzern Verbündete werden. OB Matthias Braun wies in seiner Begrüßung auf den CDU-Politiker Adolf Furler hin, der 1960 erster deutscher Präsident des Europäischen Parlaments in Straßburg wurde. Braun stellte die erste Frau im Oberkircher Gemeinderat vor, 1959 gewählt: Die Unternehmerin Elisabeth Keilbach. Archivleiterin Irmgard Schwanke belegte den landwirtschaftlichen Wandel. 1946 gab es im Renchtal 400 Schlepper, sprich: Traktoren. 20 Jahre später waren es 3000, und viele Landwirte beackerten ihren Hof nach Feierabend, wenn sie aus der Fabrik heimkamen. Auch das"Maschinengewehr Gottes" ist Gegenstand der Ausstellung: Der Jesuitenpater Leppich trug dieses Attribut. Zu seinen Open-Air-Predigten in Oberkirch kamen 15 000 Besucher.
Sehr lesenswert ist das Begleitheft zu der Ausstellung, verfasst vom Historiker Heinz G. Huber. Huber spiegelt die 1950er Jahre sehr genau, einerseits ihre Spießigkeit, ihre Entbehrungen und ihre Probleme mitsamt ihrem in gewisser Weise verständlichen Verdrängen der Hitlerjahre. Und er zeigt auch die andere Seite auf: Die Leistungen der Menschen damals, ihre Sehnsüchte und diesen Hunger nach "Leben".
von Robert Ullmann
Während des Zweiten Weltkriegs produzierte das Werk für die Wehrmacht, danach für die französische Armee. In den 1950ern schließlich wurden Bratpfannen, Hufnägel und Feldküchen hergestellt. Und Roller. 14 000 Stück insgesamt, bis man beim beginnenden Auto-Boom die Roller-Produktion nach Indien verkaufte. Sogar Rennen waren damals in den 1950ern mit dem Progress-Roller gefahren worden.
Der im Grimmelshausenmuseum ausgestellte "Progress 200" ist überdies ein ganz besonderes Fahrzeug. Es ist nämlich seit 1959 dauerhaft angemeldet und in Betrieb! Sein Besitzer Franz Dürr fährt es heute noch fast täglich und hält es tiptop gepflegt. Gekauft hat er es als Gebraucht-Roller im Jahr 1959 für 750 DM, knapp die Hälfte des Neupreises – beim damaligen Lohnniveau war das eine große Anschaffung. 1954 nach Ende seiner Ausbildung habe er 1,33 DM in der Stunde verdient, fünf Jahre später etwas mehr, erinnert sich der Rentner.
Bald noch dem Kauf rollerte er damit über den Gotthardt an den Lago Maggiore, zwei vollgepackte Koffer auf dem Gepäckträger festgeschnallt. Italien, der Süden – die "Reisewelle" folgte historisch auf die Fresswelle und war eng verknüpft mit dem Roller. Viele machten sich damals per Roller nach Italien auf: Gardasee, Comer See, gar Venedig und Florenz, Rimini und San Remo wurden angesteuert. Auch Mitbringsel solcher Reisen sind im Oberkirch ausgestellt, neben alten Röhrenradios, Single-Schallplatten von Freddy & Co und einem Siingle-Plattenspieler mit selbstgebautem Gehäuse! Man kann eine Lockenwicklermaschine von damals bewundert und ein Kleid aus Kunstfaser – Nylon war der letzte Schrei. Besonders apart: Ein Reise-Etui für Nylonstrümpfe!
Die Zeitläufe von damals werden gespiegelt in Zeitungsberichten, Werbung oder Kinoprogrammen: Tarzanfilme, Dick und Doof, Geierwally, Schwarzwaldmädel, O. W. Fischer und Maria Schell etc. Oberkirch hatte damals zwei Kinos bei 6500 Einwohnern. Heute gibt es bei 20 000 Einwohnern kein Kino mehr dort
Die Besetzung durch eine französische Garnison wird thematisiert, und auch, wie aus den Besetzern Verbündete werden. OB Matthias Braun wies in seiner Begrüßung auf den CDU-Politiker Adolf Furler hin, der 1960 erster deutscher Präsident des Europäischen Parlaments in Straßburg wurde. Braun stellte die erste Frau im Oberkircher Gemeinderat vor, 1959 gewählt: Die Unternehmerin Elisabeth Keilbach. Archivleiterin Irmgard Schwanke belegte den landwirtschaftlichen Wandel. 1946 gab es im Renchtal 400 Schlepper, sprich: Traktoren. 20 Jahre später waren es 3000, und viele Landwirte beackerten ihren Hof nach Feierabend, wenn sie aus der Fabrik heimkamen. Auch das"Maschinengewehr Gottes" ist Gegenstand der Ausstellung: Der Jesuitenpater Leppich trug dieses Attribut. Zu seinen Open-Air-Predigten in Oberkirch kamen 15 000 Besucher.
Sehr lesenswert ist das Begleitheft zu der Ausstellung, verfasst vom Historiker Heinz G. Huber. Huber spiegelt die 1950er Jahre sehr genau, einerseits ihre Spießigkeit, ihre Entbehrungen und ihre Probleme mitsamt ihrem in gewisser Weise verständlichen Verdrängen der Hitlerjahre. Und er zeigt auch die andere Seite auf: Die Leistungen der Menschen damals, ihre Sehnsüchte und diesen Hunger nach "Leben".
von Robert Ullmann
am
Di, 17. Mai 2016