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Neu im Kino: Die wilde Komödie "Tangerine L.A."

Die bildmächtige und wunderbare Komödie "Tangerine L. A." über transsexuelle Frauen ist eine Empfehlung. Nicht nur, weil es der erste Film ist, der komplett auf einem Handy gedreht wurde.

Der Durchschnittshetero stellt sich Leben und Lieben von Transsexuellen ja als einigermaßen düster vor, das von drogenabhängigen transsexuellen Prostituierten aber als das nackte Grauen. Wieso sollte man dem diesen Film ans Herz legen? Als Lehrstück in Sachen Toleranz? Ja, "Tangerine L. A." von Sean Baker funktioniert durchaus auch nach den gängigen Gesetzen von Minderheitenfilmen: Seht her, das sind doch Menschen wie wir alle, eifersüchtig und gekränkt, hungrig nach Zärtlichkeit und Freundschaft. Aber das ist es nicht, was seine Klasse ausmacht. Nicht einmal seine technische Besonderheit als erster Film, der komplett auf einem Handy gedreht wurde.

Natürlich ist es verblüffend, dass Baker und Kameramann Radium Cheung mit einem iPhone-5S-Bilder schaffen konnten, die absolut tauglich sind für die große Leinwand. Dafür statteten sie das Smartphone freilich auch mit speziellen Linsen aus und sorgten in der Postbearbeitung für übersättigte Farben und einen surrealen Look. Und sicher beweist "Tangerine L. A." eindrücklich, dass auch mit einem Mikrobudget von 100 000 Dollar großes Kino gemacht werden kann.

Die Großartigkeit dieses Dramas, das die in Freiburg ansässige Kool Filmdistribution mit Mut und Instinkt fürs deutsche Kino ergattert hat, liegt aber weder in Technik noch Thema. Sondern in seinem fiebrigen Drive, seiner unwiderstehlichen Vitalität, den sensationellen Schauspielerleistungen, seiner atemberaubenden Glaubwürdigkeit. Der Film, auf Festivals zwischen Rio und Karlsbad mit Auszeichnungen förmlich überschüttet, ist ein Kinohighlight der popkulturellen Art, rau und wild, komisch und berührend.

Der US-amerikanische Autor und Regisseur Baker, Jahrgang 1971, ist selbst übrigens hetero – nur falls Bedenken bestehen, er wolle hier Sympathiewerbung in eigener Sache betreiben. Dass er sich aber für Minderheiten abseits des kulturellen Mainstream interessiert, hat er bereits in seinem ebenfalls preisgekrönten Drama "Starlet" (2012) um eine Pornodarstellerin und einen altgewordenen Möchtegern-Hollywood-Star bewiesen.

Jetzt also Transsexuelle. Und Los Angeles, genauer gesagt die Kreuzung von Santa Monica Boulevard und Highland Avenue, wo der Schnellimbiss Donut Time steht. Und wo es verdammt wenig Glamour gibt, dafür jede Menge Drogen und Prostitution. In dieser Ecke wohnte auch die Afroamerikanerin Mya Taylor, die Baker mit ersten Geschichten und Informationen versorgte – und eine seiner beiden Hauptdarstellerinnen wurde. Die andere ist ihre Freundin Kitana Kiki Rodriguez, und gemeinsam sind sie unschlagbar, die beiden Transgenderfrauen, die jahrelange Erfahrung als Sexarbeiterinnen haben und die Szene mit Haut und Haar kennen.

Geballte

Frauenpower

Die Geschichte von "Tangerine L. A." ist freilich frei erfunden: Sin-Dee Rella (Rodriguez) – bereits der Name zeigt sie als Aschenputtel und verträumte Märchenprinzessin zugleich – kommt an Heiligabend aus dem Knast und erfährt von Alexandra (Taylor), dass ihr Freund Chester (köstlich komisch: James Ransone) in ihrer Abwesenheit eine andere gevögelt hat. Und dann noch eine, die bereits als Frau geboren wurde! Sin-Dee explodiert vor Wut (die derben Dialoge, zu guten Teilen von den Darstellerinnen improvisiert, sind herrlich grell und rasant) und macht sich auf, die Schlampe zu finden. Als sie sie endlich in einem zum Minibordell umfunktionierten Wohnzimmer aufgespürt hat, unterstreicht allein die äußere Erscheinung der schmalen Blondine Dinah (Mickey O'Hagan), wie viel geballte Frauenpower in den transsexuellen Ladys steckt. Rodriguez gibt ihre Figur einfach hinreißend, ein süßes, wuchtiges, charismatisches Kraftpaket.

Bevor Sin-Dee die zeternd zitternde Dinah zu Chester schleppt, macht sie Station im Nachtclub, in dem an diesem Heiligen Abend Alexandra singt. Die hatte den ganzen Tag Flyer verteilt und für ihren Auftritt geworben, gekommen ist niemand. Niemand? Doch natürlich, die beste Freundin mit ihrer Geisel. Taylors mädchenhaft verschleppter Gesang und die Art und Weise, wie Rodriguez lauscht, andächtig, innig verbunden, ist das emotionale Herzstück dieses Films, der die großen Gefühle und Sehnsüchte seiner Figuren in keiner Sekunde behaupten muss.

Im Showdown eskaliert schließlich nicht nur die Haupthandlung um das schöne Aschenputtel und seinen untreuen Prinzen. Auch Razmik (ruhig und souverän: Bakers Freund und Stammspieler Karren Karagulian) kommt, der armenische Taxifahrer, samt rasender Schwiegermutter, Frau und Kind. Anfangs glaubte man noch, er solle dem Zuschauer vor allem den traurigen Alltag auf den Straßen von L. A. vermitteln, vom Stoner, der ihm den Wagen vollkotzt, bis zur alten Dame, der das Hündchen gestorben ist. Aber bald ist klar: Razmiks Bedürfnisse sind andere, als seine christliche Familie erlaubt.

Alexandra wird sie stillen, in einer fast zarten, diskreten Liebesszene im Waschsalon – und danach schenkt sie ihm eine Duftpappe in Mandarinenform fürs Auto, die (titelgebende) einzige Weihnachtsbescherung im ganzen Film. Sin-Dee dagegen kriegt nur böse Überraschungen; erst von Chester, dann, ausgerechnet, von Alexandra, am Ende von einem aggressiven Tuntenhasser. Was die Herzensfreundinnen dann doch wieder zusammenschweißt: Liebe verbindet stärker als Sex.

Und ach, dann sind sie auch schon vorbei, die anderthalb extrem kurzweiligen Kinostunden, denen ein fulminanter Soundtrack (Matthew Smith) zwischen Beethoven-Pathos und pulsierendem Dub zusätzlich Flügel verliehen hat. Man will sie am liebsten gleich noch einmal und immer wieder betrachten, diese prächtig schillernde Perle des Independentkinos.

"Tangerine L. A." von Sean Baker kommt am Donnerstag in die Kinos. (Ab 16)
von Gabriele Schoder
am Mi, 06. Juli 2016 um 00:00 Uhr

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