Leben und Sterben
Verena Lueken liest in Freiburg aus "Alles zählt"
Eine Journalistin kehrt nach langer Abwesenheit zurück nach New York. Sie will ihr Leben neu justieren. Doch schon wenige Tage nach ihrer Ankunft weiß sie, dass die Krankheit wieder da ist. Ihre Krankheit. Lungenkrebs. Es ist die dritte Heimsuchung in 15 Jahren. Ein Satz von James Salter geht ihr nicht mehr aus dem Kopf: "Death in the summer, in a haggard city from which everyone wanted to flee, death without meaning, without air." Die Autorin des Buches kennt viele solcher Sätze in der Originalsprache. Verena Lueken hat als Kulturkorrespondentin der FAZ sieben Jahre in New York gelebt, unter anderem die Witwe des 1996 an Aids gestorbenen Autors Harold Brodkey kennengelernt. Ellen spielt in "Alles zählt" eine Rolle: als seelenverwandte Freundin der Erzählerin, die sie auch bei ihrer dritten Operation durch die Chirurgin "mit den Eisenhänden" begleitet.
Besitzt die Stadt, die die Erzählerin liebt wie keine andere, vielleicht so etwas wie schwarze Magie, fragt sie sich später, schon wieder auf dem Weg nach Frankfurt. Immer hier ist der Krebs ausgebrochen. Ernsthaft ist diese Frage nicht gemeint. Die Erzählerin zeichnet sich durch ein hohes Maß an Nüchternheit aus. Ihr käme es nicht in den Sinn, ihre Krankheit metaphorisch zu überhöhen oder nach Zusammenhängen zwischen Krebs und psychischer Befindlichkeit zu fahnden. Es interessiert sie auch nicht. Sie geht den Schrecken pragmatisch an und rechnet mit dem Schlimmsten. "Alles zählt" – man zögert, dieses sehr reflektierte, kluge Buch einen Roman zu nennen – setzt sich furchtlos mit dem Sterben und dem Tod auseinander – und gleitet unmerklich in die Familiengeschichte der Erzählerin.
In dieser spielt die Mutter eine alles überstrahlende Rolle. Der Text ist auch die ergreifende Liebeserklärung an den wichtigsten Menschen im Leben der Erzählerin: "Zwei Hälften einer Seele" heißt es an jener Stelle, an der die Erzählerin den letzten Heiligabend mit ihrer 92-jährigen Mutter feiert. Ein Abschied, wie er inniger nicht sein könnte – der Abschied von einer souveränen, autarken Persönlichkeit, die ihren Geliebten nicht versteckte, über Jahre ein Doppelleben führte, nach seinem Tod noch 36 Jahre lang ein erfülltes, von seiner Liebe getragenes Leben führte.
Der Erzählerin scheint solche Gefühlsintensität nicht gegeben zu sein. Zwar begleitet S. sie auf dem Weg durch den Schmerz, doch ihm werden nur wenige Zeilen geschenkt. Dieser Schmerz macht einsam. In der Schilderung eines außer Kontrolle geratenen Nervensystems, das mit den stärksten Drogen nicht zur Ruhe zu bringen ist, erreicht "Alles zählt" seinen Höhepunkt. Man staunt, wie es der Autorin gelingt, den Schmerz in Worte zu bannen: "Es kam eine Zeit, da schaute sie sich beim Totsein zu."
Durch diese Hölle einer Spirale zwischen Schmerz und der Abhängigkeit von Opiaten möchte man nicht gehen. Die Erzählerin hat zwar ihren Krebs überlebt, aber leben kann sie über lange Wochen nicht. Erst am Ende, als sie zum zweiten Mal nach Myanmar aufbricht, weicht die "wilde Dunkelheit" – wie Brodkey den Augenblick des Todes genannt hat – einem "gleißenden Licht". Verena Lueken hat ein hartes, bewundernswert rücksichtsloses Buch über eine "Durchreisende im Königreich der Kranken" geschrieben. Am Ende bleibt die vielleicht tröstende Erkenntnis: "Nur das Leben ist alle Mühen wert".
Besitzt die Stadt, die die Erzählerin liebt wie keine andere, vielleicht so etwas wie schwarze Magie, fragt sie sich später, schon wieder auf dem Weg nach Frankfurt. Immer hier ist der Krebs ausgebrochen. Ernsthaft ist diese Frage nicht gemeint. Die Erzählerin zeichnet sich durch ein hohes Maß an Nüchternheit aus. Ihr käme es nicht in den Sinn, ihre Krankheit metaphorisch zu überhöhen oder nach Zusammenhängen zwischen Krebs und psychischer Befindlichkeit zu fahnden. Es interessiert sie auch nicht. Sie geht den Schrecken pragmatisch an und rechnet mit dem Schlimmsten. "Alles zählt" – man zögert, dieses sehr reflektierte, kluge Buch einen Roman zu nennen – setzt sich furchtlos mit dem Sterben und dem Tod auseinander – und gleitet unmerklich in die Familiengeschichte der Erzählerin.
In dieser spielt die Mutter eine alles überstrahlende Rolle. Der Text ist auch die ergreifende Liebeserklärung an den wichtigsten Menschen im Leben der Erzählerin: "Zwei Hälften einer Seele" heißt es an jener Stelle, an der die Erzählerin den letzten Heiligabend mit ihrer 92-jährigen Mutter feiert. Ein Abschied, wie er inniger nicht sein könnte – der Abschied von einer souveränen, autarken Persönlichkeit, die ihren Geliebten nicht versteckte, über Jahre ein Doppelleben führte, nach seinem Tod noch 36 Jahre lang ein erfülltes, von seiner Liebe getragenes Leben führte.
Der Erzählerin scheint solche Gefühlsintensität nicht gegeben zu sein. Zwar begleitet S. sie auf dem Weg durch den Schmerz, doch ihm werden nur wenige Zeilen geschenkt. Dieser Schmerz macht einsam. In der Schilderung eines außer Kontrolle geratenen Nervensystems, das mit den stärksten Drogen nicht zur Ruhe zu bringen ist, erreicht "Alles zählt" seinen Höhepunkt. Man staunt, wie es der Autorin gelingt, den Schmerz in Worte zu bannen: "Es kam eine Zeit, da schaute sie sich beim Totsein zu."
Durch diese Hölle einer Spirale zwischen Schmerz und der Abhängigkeit von Opiaten möchte man nicht gehen. Die Erzählerin hat zwar ihren Krebs überlebt, aber leben kann sie über lange Wochen nicht. Erst am Ende, als sie zum zweiten Mal nach Myanmar aufbricht, weicht die "wilde Dunkelheit" – wie Brodkey den Augenblick des Todes genannt hat – einem "gleißenden Licht". Verena Lueken hat ein hartes, bewundernswert rücksichtsloses Buch über eine "Durchreisende im Königreich der Kranken" geschrieben. Am Ende bleibt die vielleicht tröstende Erkenntnis: "Nur das Leben ist alle Mühen wert".
Verena Lueken: Alles zählt. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 204 Seiten, 18,99 Euro. Lesung: Auf Einladung von Carl-Schurz-Haus und Literaturbüro liest die Autorin am 14. Januar um 20 Uhr im Artjamming, Freiburg, Günterstalstraße 41.
von Bettina Schulte
am
Mi, 13. Januar 2016