Eine kämpferische Hommage
Eines Tages bricht Monique Bellegueule aus. Aus ihrer Ehe, einem vorbestimmten Lebenslauf, der Aussichtslosigkeit eines Daseins am gesellschaftlichen Rand. Aus der Peripherie zieht sie nach Paris, lebt mit einem Mann zusammen, der es besser mit ihr meint als der, den sie in einem mutigen Schritt verlassen hat. Sie trifft sich dort mit ihrem Sohn, der es zu Ansehen, sogar zu einem gewissen Ruhm gebracht hat; er führt sie in Restaurants, in die sie sich vor kurzem niemals getraut hätte. Es ist eine Metamorphose, die diese Monique durchmacht. Eine Art von Selbstermächtigung. Ein Akt der Befreiung. "Nichts an ihr erinnerte an die Frau, die meine Mutter gewesen war. Sie hatte sich geschminkt, die Haare gefärbt. Sie trug Schmuck. Wenige Wochen Abstand zu dem Dorf und zu dem, was allzu lang ihr Leben gewesen war, hatten genügt, ihre äußere Erscheinung von Grund auf zu verwandeln. Sie las mir die Überraschung vom Gesicht ab und sagte – wie immer die Theoretikerin ihrer selbst, Siehst du, ich bin nicht mehr dieselbe wie vorher! Jetzt bin ich eine echte Pariserin. Ich lächelte, Ja, stimmt. Stimmt, du bist die Königin von Paris."
Der hier über seine Mutter schreibt, heißt Édouard Louis. Früher war sein Name Eddy Bellegueule. Der noch nicht einmal Dreißigjährige hat darüber geschrieben, wie er aus seiner Herkunftshaut geschlüpft ist, wie er sich nicht nur des Namens, sondern auch der Insignien seines Milieus entledigt hat. Wie er als junger schwuler Mann seine Klasse geflohen hat – um schließlich über diese Klasse zu reflektieren, mit Scham und mit Wut auf jene, die soziale Ungleichheit produzieren und aufrechterhalten. In seinem Buch "Wer hat meinen Vater umgebracht" versuchte er, dem gewalttätigen Arbeiter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – und jene anzuklagen, die für die physischen und psychischen Schäden der Deklassierten verantwortlich sind. Nun widmet er sich in "Die Freiheit einer Frau" der Geschichte seiner Mutter. "Warum habe ich das Gefühl, eine traurige Geschichte zu schreiben, obwohl ich doch vorhatte, die Geschichte einer Befreiung zu erzählen?"
Traurig sind die Demütigungen, die Armut, die Abhängigkeiten, in denen die Mutter von Anfang an gefangen ist. Traurig ist die Entfremdung des Sohnes, dem sein Anderssein zum Vorwurf gemacht wird. Der wie durch ein Wunder das Gymnasium besuchen kann, neue Wörter, neue Sitten, einen neuen Habitus erlernt. Alles treibt ihn noch weiter weg von der Herkunftswelt, in der Träume längst unter einem gewaltigen Realitätsdruck begraben sind. Das Erstaunliche ist, dass der entkommene Sohn auf merkwürdige Weise zum Vorbild der Mutter wird. Dass sie sich, als ihr Leidensdruck zu stark wird, Freiheiten nimmt, die ihr niemand zugestanden hat. Dass sie sich in fortgeschrittenem Alter und in kürzester Zeit ihrer Zuschreibungen entledigt. Plötzlich kehrt sich alles um: "Weil unsere Beziehung sich verändert hat, kann ich jetzt wohlwollend auf unsere Vergangenheit blicken, oder besser gesagt, kann ich im Chaos der Vergangenheit Fragmente der Zärtlichkeit ausmachen."
Wie sein großes Vorbild Annie Ernaux scheint auch Louis mit seinen Büchern nicht nur eine Analyse, sondern auch eine Wiedergutmachung betreiben zu wollen. In einfacher Sprache, in verknapptem Stil, in kunstloser Prägnanz nutzt er das Material seines Lebens, variiert und wiederholt es von schmalem Buch zu schmalem Buch, um von Ungerechtigkeit und Klassismus zu erzählen. Tatsächlich hat man nun aber zum ersten Mal auch den Eindruck eines gewissen Schematismus – die Form ist gefunden, sie kann jetzt auf alles angewendet werden: Wo bei Annie Ernaux noch in den Nebensätzen eine immense Dringlichkeit spürbar ist, gibt es bei Louis zuweilen eine redundante Manieriertheit. Gleichwohl sind da noch immer Sätze, in denen eine widersprüchliche Zärtlichkeit zittert, und für diese lohnt sich die Lektüre dieser kämpferischen Hommage an eine Frau, die von der Freiheit träumt.
Der hier über seine Mutter schreibt, heißt Édouard Louis. Früher war sein Name Eddy Bellegueule. Der noch nicht einmal Dreißigjährige hat darüber geschrieben, wie er aus seiner Herkunftshaut geschlüpft ist, wie er sich nicht nur des Namens, sondern auch der Insignien seines Milieus entledigt hat. Wie er als junger schwuler Mann seine Klasse geflohen hat – um schließlich über diese Klasse zu reflektieren, mit Scham und mit Wut auf jene, die soziale Ungleichheit produzieren und aufrechterhalten. In seinem Buch "Wer hat meinen Vater umgebracht" versuchte er, dem gewalttätigen Arbeiter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – und jene anzuklagen, die für die physischen und psychischen Schäden der Deklassierten verantwortlich sind. Nun widmet er sich in "Die Freiheit einer Frau" der Geschichte seiner Mutter. "Warum habe ich das Gefühl, eine traurige Geschichte zu schreiben, obwohl ich doch vorhatte, die Geschichte einer Befreiung zu erzählen?"
Traurig sind die Demütigungen, die Armut, die Abhängigkeiten, in denen die Mutter von Anfang an gefangen ist. Traurig ist die Entfremdung des Sohnes, dem sein Anderssein zum Vorwurf gemacht wird. Der wie durch ein Wunder das Gymnasium besuchen kann, neue Wörter, neue Sitten, einen neuen Habitus erlernt. Alles treibt ihn noch weiter weg von der Herkunftswelt, in der Träume längst unter einem gewaltigen Realitätsdruck begraben sind. Das Erstaunliche ist, dass der entkommene Sohn auf merkwürdige Weise zum Vorbild der Mutter wird. Dass sie sich, als ihr Leidensdruck zu stark wird, Freiheiten nimmt, die ihr niemand zugestanden hat. Dass sie sich in fortgeschrittenem Alter und in kürzester Zeit ihrer Zuschreibungen entledigt. Plötzlich kehrt sich alles um: "Weil unsere Beziehung sich verändert hat, kann ich jetzt wohlwollend auf unsere Vergangenheit blicken, oder besser gesagt, kann ich im Chaos der Vergangenheit Fragmente der Zärtlichkeit ausmachen."
Wie sein großes Vorbild Annie Ernaux scheint auch Louis mit seinen Büchern nicht nur eine Analyse, sondern auch eine Wiedergutmachung betreiben zu wollen. In einfacher Sprache, in verknapptem Stil, in kunstloser Prägnanz nutzt er das Material seines Lebens, variiert und wiederholt es von schmalem Buch zu schmalem Buch, um von Ungerechtigkeit und Klassismus zu erzählen. Tatsächlich hat man nun aber zum ersten Mal auch den Eindruck eines gewissen Schematismus – die Form ist gefunden, sie kann jetzt auf alles angewendet werden: Wo bei Annie Ernaux noch in den Nebensätzen eine immense Dringlichkeit spürbar ist, gibt es bei Louis zuweilen eine redundante Manieriertheit. Gleichwohl sind da noch immer Sätze, in denen eine widersprüchliche Zärtlichkeit zittert, und für diese lohnt sich die Lektüre dieser kämpferischen Hommage an eine Frau, die von der Freiheit träumt.
Édouard Louis: Die Freiheit einer Frau. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 96 Seiten, 17 Euro.
von Ulrich Rüdenauer
am
Sa, 27. November 2021