Schauspiel

Interview mit Miriam Tscholl über ihre Fassbinder-Inszenierung am Theater Freiburg

TICKET-INTERVIEW mit Miriam Tscholl über ihre Freiburger Fassbinder-Inszenierung.

Rainer Werner Fassbinders 1968 uraufgeführtes Stück "Anarchie in Bayern" erfährt durch die Regisseurin Miriam Tscholl eine Neuinterpretation. Eine Farce, erarbeitet mit der Seniorentheatergruppe Methusalems, die aktueller nicht sein könnte. Ines Tondar sprach mit der Leiterin der Bürgerbühne Dresden über ihre Inszenierung, die am Freitag im Kleinen Haus des Theaters Freiburg Premiere hat.

Ticket: Warum haben Sie dieses eher unbekannte Stück ausgewählt?
Tscholl: Das Stück liegt seit fünfzehn Jahren in meiner Schublade. Es ist absurd, böse und witzig. In letzter Zeit kam es mir öfter in den Sinn, weil sich unser Land und Europa stark verändern. Ich habe das Bedürfnis, über die gesellschaftliche Spaltung, die gerade passiert, nicht ausschließlich in der Ernsthaftigkeit von Podiumsdiskussionen zu sprechen. Die Leichtigkeit und das Lachen des Stücks tun zur Abwechslung ganz gut. Auch wenn "Anarchie in Bayern" keinen lustigen Hintergrund hat.
Ticket: Worum geht es?
Tscholl: Die Familie Normalzeit sitzt im Wohnzimmer und bekommt durch das Fernsehen folgende Information: Die "Bunte Anarchie Bayern" hat Bayern durch einen Trick besetzt. Kurzerhand schaffen die Revolutionäre Geld, Ehe und Gefängnisse ab – in unserer aktualisierten Version gleich auch den Klimawandel und die Geschlechter. Familie Normalzeit, die ordnungsorientiert, sehr traditionell und in ihren Familien- und Geschlechterrollen verhaftet ist, gerät in Panik. Es geht um den Clash zweier Gruppen, um eine Spaltung der Gesellschaft. Das Zusammenleben der Kulturen misslingt.
Ticket: Sie sprechen von einer "radikalen Neuinterpretation". Was meinen Sie damit?
Tscholl: Die Familie Normalzeit spielt in schwarz-weißen Kostümen, wir befinden uns im Jahr 1953. Die "Bunte Anarchie Bayern" ist eine bunte Truppe, die sich aus einer lesbischen Muslima, einem Alt-Hippie, einer Antifa-Braut und zwei durchgeknallten Schauspielern zusammensetzt -- die plurale Linke von heute, könnte man sagen. Dabei werden Themen wie Massentierhaltung, Gender und Konsum angesprochen. Am Ende des Stücks überrascht eine konterrevolutionäre Bürgerwehr, die das Chaos der Stunde für Ihre Ziele nutzt. Ähnlichkeiten mit Pegida, der AfD und der NPD sind nicht zufällig.
Ticket: Was prädestiniert die Seniorentheatergruppe Methusalems dazu, das Stück aufzuführen?
Tscholl: "Anarchie in Bayern" zieht den zeitlichen Bogen von der Nachkriegszeit über die 68er Generation bis ins Heute. Das ist in etwa die Lebensspanne, in der die Spieler der Methusalems gelebt haben. Diese gelebte Geschichte bringen sie mit ihren Körpern und mit ihrem Wissen auf die Bühne. Und als Zuschauer denkt man sofort die ganze deutsche Vergangenheit von Adenauer bis heute mit. Die Methusalems haben dem Regieteam natürlich auch immer wieder aufschlussreiches Detailwissen über vergangene Zeiten geliefert: Was wurde zu Weihnachten geschenkt, wie sah der Wischmopp aus und vieles mehr.
Ticket: Warum haben Sie sich überhaupt für ein Werk von Fassbinder entschieden?
Tscholl: Rainer Werner Fassbinder schreibt aus dem Lebensgefühl der 68er Jahre heraus. Ich habe den Eindruck, dass die Spaltung unserer heutigen Gesellschaft unter anderem ihren Ursprung in dieser Zeit hat. Viele fühlten sich möglicherweise damals schon von linker Überheblichkeit abgehängt und rächen sich heute. Es gibt einen Rückschritt liberaler Werte. Für mich erfährt "Anarchie in Bayern" deshalb eine Renaissance.

Termine: Freiburg, "Anarchie in Bayern", Theater, Werkraum, Premiere: Fr, 16. Dez., 19 Uhr. Termine bis Ende Januar
von bz
am Fr, 16. Dezember 2016

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