Oper

Interview mit Vera Nemirova, die in Freiburg Leos Janáceks "Die Sache Makropulos" inszeniert

TICKET-INTERVIEW: Vera Nemirova inszeniert Leos Janácek am Theater Freiburg.

Für Leos Janáceks vorletzte Oper "Die Sache Makropulos" kommt Vera Nemirova ("Das geopferte Leben") ans Freiburger Theater zurück. Vor der Premiere sprach Georg Rudiger mit der renommierten Regisseurin über Einsamkeit im Alter, sinnliche Frauen und den Sinn des Lebens.

Ticket: Frau Nemirova, "Die Sache Makropulos" ist eine sehr ungewöhnliche Oper. Es gibt keine Arien. Die Hauptperson trägt verschiedene Namen und es geht um die Vergangenheit. Wie ist Ihre Sichtweise auf Janáceks vorletzte Oper?
Nemirova: Für mich ist das ein hochaktuelles Werk, weil wir ja alle bemüht sind, unseren Alterungsprozess künstlich zu verzögern. Es gibt eine regelrechte Antiaging-Industrie, die in unserem Alltag ständig präsent ist. Wir haben den Jugendkult. Und lebensverlängernde Maßnahmen, die es uns möglich machen, älter als gewöhnlich zu werden. Die Protagonistin Emilia Marty ist 327 Jahre alt, weil ihr Vater als Leibarzt Kaisers Rudolf II. an ihr ein Lebenselixier ausprobiert hat, als sie 16 Jahre alt war. Äußerlich ist die Primadonna kaum gealtert, innerlich hat sie Erfahrungen gesammelt. Diese Unsterblichkeit ist ein Segen, aber auch ein Fluch. Man weiß das ja auch von Menschen, die 100 Jahre oder älter sind.
Ticket: Wann sind Sie erstmals mit der Oper in Berührung gekommen?
Nemirova: Ich habe an der Wiener Staatsoper Anja Silja kennen gelernt, die in meiner Inszenierung von Tschaikowskys "Pique Dame" die alte Gräfin spielte. Sie war eine legendäre Emilia Marty in der Inszenierung von Ruth Berghaus, meiner Lehrerin. Anja Silja hat mir viel über diese Figur erzählt, weil sie in der alten Gräfin eine Seelenverwandte von Emilia Marty sah.
Ticket: Dann hatten Sie das Werk schon länger im Visier...
Nemirova: Ja. Ich habe mich sehr gefreut, als das Freiburger Theater mich dafür angefragt hat. Es ist ein sehr kluges Stück. Es sagt nicht viel über die Hauptfigur aus, sondern erzählt vor allem die sie umgebende Realität. Eine gewalttätige Männergesellschaft, die sie voyeuristisch beäugt. Über Aggression und Obsession. Emilia Marty steht im Zentrum. Die anderen Figuren spiegeln sich in ihr.
Ticket: Diese Oper ist ja wie ein Krimi gebaut. Nach und nach erfährt der Zuschauer die Wahrheit. Erst in der letzten Szene wird die Lösung präsentiert.
Nemirova: In unserer Inszenierung bauen wir nicht auf diese Enthüllungsdramaturgie, sondern erzählen die Vorgeschichte mit einem Stammbaum und steigen damit in die Oper ein. Es gibt ja zwei Vorgeschichten: neben der von Emilia Marty auch die des nicht enden wollenden Erbschaftsstreits um ein Gut zwischen den verfeindeten Familien Gregor und Prus, beide Nachfahren von einem alten Baron Prus. Emilia Marty war unter dem Namen Elian MacGregor die Geliebte des Barons und hatte mit ihm ein Kind. Das war die einzige erfüllte Liebesbeziehung ihres Lebens. In der Oper spüren Albert Gregor und Emilia von Beginn an große Nähe, sie werden auch musikalisch mit ähnlichem Material ausgestattet.
Ticket: Diese Oper läuft über Dialoge. Was heißt das für Ihre Arbeit?
Nemirova: Wir haben ein Konversationsstück, in dem rezitativische Passagen dominieren und viel an musikalischer Schönheit dem Orchester obliegt. Herrliche Instrumentation, tolle Farben, überraschende Wendungen, während die Figuren darüber die ganze Zeit auf Tschechisch streiten. Das war trotz Sprachcoach natürlich eine schwierige Arbeit, aber wir sind auf einem guten Weg. Katerina Hebelková ist Muttersprachlerin. Man muss die Szenen wortwörtlich verstehen. Was genau sage ich in welchem Moment mit welcher Haltung zu welchem Partner? Trotzdem hat das Ganze eine große Sinnlichkeit – gerade durch die Figur der Emilia Marty. Sie ist vergleichbar mit einer Eleonora Duse, George Sand, Marilyn Monroe oder einer Maria Callas. Unter verschiedenen Namen und Identitäten bleiben ihr als einzige Konstante die Initialen E. M. und ihr Beruf als Opernsängerin.
Ticket: Wird Emilia Marty erlöst?
Nemirova: Auf jeden Fall. So ein langes Leben, in dem man nie seine Identität preisgeben darf, in dem die geliebten Menschen gestorben ist und alle Beziehungen weggebrochen sind, ist nicht lebenswert. Es geht in der Oper auch um den Sinn des Lebens. Wäre man unsterblich, könnte man das Leben nicht genießen. Die Oper schenkt also Trost.

Termine: Freiburg, "Die Sache Makropulos", Theater, Großes Haus, Premiere: Sa, 26. Nov., 19.30 Uhr; weitere Aufführungen: 1., 3., 9., 18., 23. Dez.,
6., 18. Jan., 4. Feb., 19., 26. März
von ruge
am Fr, 25. November 2016

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