Polonäse in die Finsternis

Speisen im Dunkeln: Die "Blinde Kuh" in Zürich.

T isch Nr. 120. Ihre Bedienung heißt Elisabeth und wird Sie gleich hier abholen", sagt Ibolya an der Rezeption des Restaurants "Blinde Kuh" in Zürich. Vorher gilt es, das Menü auszuwählen und sich zu merken sowie alles abzulegen, was Licht bringen könnte, wie die Leuchtziffern einer Uhr. Die Auswahl der Mahlzeit fällt leicht: Salat, Seeteufel mit Reis, Mineralwasser und Apfelsaftschorle. Weitere vier junge Leute versammeln sich um die Rezeption und stecken ihre Nasen in die Karte.

Dann kommt Elisabeth, blinzelnd steht sie am Nebeneingang vor dem schwarzen Vorhang und bittet die Gäste von Tisch Nr. 120 vorzutreten. "Sind noch weitere Gäste hier?", fragt sie in den Raum, wartet auf das Ja der Empfangsdame und bittet die Wartenden ebenfalls zu sich. Elisabeth ist sehbehindert und wird ihre sehenden Gäste gleich in die Dunkelheit führen, in ihre Welt, ins Restaurant "Blinde Kuh". Von hinten an die Schultern fasst man sich, Elisabeth vorneweg: eine Polonäse in die Finsternis. Vorher bleibt Elisabeth noch einmal stehen und klärt die sechs Menschen hinter sich auf, dass man wirklich nichts sieht und ihren Namen rufen muss, wenn sich jemand unwohl fühlt.

Drinnen ist der Gast dann völlig blind und fühlt sich hilflos. Mit Armen und Händen versucht man, die Umgebung zu erkunden. Fragen wirbeln durch den Kopf: Wo bin ich? Wie sieht der Tisch aus? Wie der Raum? Wie weit sitzen meine Tischnachbarn entfernt? Dass viele Menschen die Dunkelheit in der "Blinden Kuh" miteinander teilen und genießen, verrät das Stimmengewirr und Gelächter. "Wo bist du, bist du da?", fragt man in die Dunkelheit, um sich zu überzeugen, dass der jeweilige Tischnachbar ebenso angekommen ist. Dann drehen sich die Gespräche erst einmal um "Was wäre wenn. . ." Was wäre wenn man eines Tages nach einem Unfall aufwachte und alles um einen herum nur schwarz wäre? Wenn man plötzlich blind wäre und seinen ganzen Alltag ohne Sehkraft bestreiten müsste?

Elisabeth, unsere Bedienung, ist sehbehindert und seit fünf Jahren dabei, seit das Restaurant in Zürich eröffnete. "Wenn es hell ist, kann ich noch Schatten wahrnehmen", sagt sie über ihre Erkrankung. Der Prozess habe schleichend begonnen, die Sehkraft sich stetig vermindert. Die Arbeit im Restaurant macht ihr Spaß. Damit es nicht zu anstrengend wird und sie noch Zeit mit ihrer Familie verbringen kann, arbeitet sie halbtags.

Tischmanieren werden vergessen

Häufig hört man sie einen kurzen Plausch mit Gästen halten oder ein Lächeln in ihrer Stimme, wenn ihrer sicheren Bewegung tapsend Hände folgen mit der bangen Frage: "Wo haben Sie das Glas hingestellt?" Doch wer sich dank Elisabeths Gelassenheit endlich entspannen kann, dem entfaltet sich die bunte Welt des Geschmacks. Die Zeit steht still, es gibt keine Hektik, keinen Druck und sogar die Tischmanieren kann man vergessen. Mit den Fingern ertastet man die Mahlzeit, prüft später, ob der Teller schon leer ist oder beugt sich weit über den Tisch, um zu vermeiden, dass mehrmals eine leere Gabel zum Mund gelangt.

Das Restaurant Blinde Kuh bietet mit seinen elf Tischen Platz für etwa 70 Personen. Die Bedienungen sind alle blind oder sehbehindert, "ein Sehender könnte das nicht", sagt Ibolya an der Rezeption. In der Küche gibt es Licht, dort arbeiten Sehende und Sehbehinderte zusammen, um die leckeren Speisen zuzubereiten.

Die Idee, auch Sehenden die Welt der Blinden mit einem Restaurant zu öffnen, entstand durch den "Dialog im Dunkeln", eine Ausstellung an der Kunsthochschule Zürich, bei der es galt, Skulpturen im Dunkeln zu ertasten, erzählt Ibolya. Im Dezember 1998 gründete das "Projektteam der blindekuh", bestehend aus Andrea Blaser, Thomas Moser, Jürg Spielmann und Stefan Zappa, die Stiftung Blind-Liecht. Die Stiftung bezweckt die Förderung der Kultur des Blindseins und des gegenseitigen Verständnisses zwischen Sehenden und Blinden in der Gesellschaft. Zu diesem Zweck entwickelt und unterstützt die Stiftung Projekte zur Schaffung von Arbeitsplätzen für sehbehinderte und blinde Menschen.

1999 richtete die Stiftung das Restaurant "Blinde Kuh" in einer ehemaligen Methodistenkirche in Zürich ein. Etwa 30 Mitarbeiter kümmern sich seither um das Wohl der sehenden, blinden und sehbehinderten Gäste. Auch kulturelle Veranstaltungen wie Musik, Comedy und Hörspiele kann man in der "Blinden Kuh" erleben.

Voraussichtlich spätestens im Frühjahr nächsten Jahres gibt es die "Blinde Kuh" auch in Basel. Im Gundeldingerquartier, auf dem Areal der Maschinenfabrik Sulzer Burckhardt (Halle h 7), etwa zehn Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, entsteht ein neues Restaurant im Dunkeln, das für etwa 100 Gäste Platz bieten wird.

Maja Tolsdorf



BLINDE KUH

Adresse: Bar, Restaurant, Kultur,

Bildung im Dunkeln, Mühlebachstraße 148, CH-8008 Zürich.

Infos unter [TEL] 004144/4215050,

info@blindekuh.ch; http://www.blindekuh.ch Öffnungszeiten: täglich 18 bis 23 Uhr, außerdem Dienstag bis Freitag 11.30 bis 14 Uhr

Reservierungen sind auch im Internet unter http://www.blindekuh.ch möglich, allerdings sind Termine am Wochenende nur langfristig buchbar. Aber auch ein Besuch unter der Woche lohnt sich. Aufgrund des dichten Zürcher Verkehrs empfiehlt es sich, die Park-and-Ride-Plätze zu nutzen und die Reise mittels Tram fortzusetzen. Eine detaillierte Wegbeschreibung für die Tramnutzung findet sich im Internet. Wer dennoch mit dem Auto anfahren möchte, kann in der nahe gelegenen Feldegg-Garage parken.
am Fr, 05. November 2004

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