TIPPS DES MONATS
Im Unglück
Warum seine Frau Hilde ihm in der Silvesternacht mit einem Beil den Schädel gespalten hat: Das versucht Walter nach seinem Tod herauszufinden. Die Suche erweitert sich zum Porträt eines vergessenen ostdeutschen Dorfes, in dem die Leute wenig wissen vom Glück: Sie schlagen sich mit ranzigen Hoffnungen herum, mit Armut, Trunksucht und grausamen Anwandlungen. "Gibt es denn niemanden, der ein normales Leben führt, fragt der Graukopf". Doch genau das tun sie ja. Das ist Trübselige an der ganzen Geschichte. Und das Schöne: dass Klüssendorf klaglos darüber schreibt, gründlich, mit Zeichen, die aufs Wesentliche hinweisen. Sätze wie Kerben in alten Bäumen: Man kann die Welt und was in ihr geschieht auch so erzählen.
Im Abseits
Seine bevorzugte Reaktion ist ein Kopfschütteln, manchmal ein Grinsen: Der 32-jährige Kenny hat eine "Entwicklungsstörung" und eine Vorliebe für die Farbe Rot. Seine Mutter, ausgelaugt von Arbeit und Armut, denkt nur noch an sich selbst, während seine Schwester Lynette bis zum Äußersten geht, um der kleinen, kaputten Familie das durch steigende Immobilienpreise bedrohte Zuhause zu erhalten. Willy Vlautin macht die zu seinen Helden, für die sich Politiker "einen Scheiß interessieren", Leute, die geboren werden, um im Abseits zu stehen, die nichts haben, nicht mal die Hoffnung, es könnte eines Tages besser werden, und die doch hart genau dafür kämpfen. Er gibt ihnen eine Stimme, schreibt einfach und beseelt und so, dass es schmerzt. Und wahrhaft süchtig macht.
In einer Erzählung rettet eine Frau statt ihres Babys eine Bambusstaffelei aus der brennenden Wohnung, in einer anderen artet ein Strandidyll mit einem Übergewichtigen in ein groteskes Abenteuer aus, in "Das blaue Hotel" führt ein wahnsinniger Schwede, der vielleicht keiner ist, mit albtraumhafter Logik seinen Tod herbei. Crane fackelt nicht lange: Ohne zu wissen warum, finden sich seine Figuren in existenziell bedrohlichen Situationen wieder, werden in Schneestürmen, Feuersbrünsten und Schiffbrüchen höllischen Erfahrungen ausgesetzt. Es sind, trotz der überwältigenden Sinnlichkeit der Beschreibungen, kühne expressive Einübungen in die Sinnlosigkeit des Lebens, dessen einziger Sinn eben darin besteht: zu überleben.
Warum seine Frau Hilde ihm in der Silvesternacht mit einem Beil den Schädel gespalten hat: Das versucht Walter nach seinem Tod herauszufinden. Die Suche erweitert sich zum Porträt eines vergessenen ostdeutschen Dorfes, in dem die Leute wenig wissen vom Glück: Sie schlagen sich mit ranzigen Hoffnungen herum, mit Armut, Trunksucht und grausamen Anwandlungen. "Gibt es denn niemanden, der ein normales Leben führt, fragt der Graukopf". Doch genau das tun sie ja. Das ist Trübselige an der ganzen Geschichte. Und das Schöne: dass Klüssendorf klaglos darüber schreibt, gründlich, mit Zeichen, die aufs Wesentliche hinweisen. Sätze wie Kerben in alten Bäumen: Man kann die Welt und was in ihr geschieht auch so erzählen.
Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September. Roman. Piper Verlag, München 2021. 217 Seiten, 22 Euro. Die Autorin liest am 13. November beim Freiburger Literaturgespräch.
Im Abseits
Seine bevorzugte Reaktion ist ein Kopfschütteln, manchmal ein Grinsen: Der 32-jährige Kenny hat eine "Entwicklungsstörung" und eine Vorliebe für die Farbe Rot. Seine Mutter, ausgelaugt von Arbeit und Armut, denkt nur noch an sich selbst, während seine Schwester Lynette bis zum Äußersten geht, um der kleinen, kaputten Familie das durch steigende Immobilienpreise bedrohte Zuhause zu erhalten. Willy Vlautin macht die zu seinen Helden, für die sich Politiker "einen Scheiß interessieren", Leute, die geboren werden, um im Abseits zu stehen, die nichts haben, nicht mal die Hoffnung, es könnte eines Tages besser werden, und die doch hart genau dafür kämpfen. Er gibt ihnen eine Stimme, schreibt einfach und beseelt und so, dass es schmerzt. Und wahrhaft süchtig macht.
Will Vlautin: Nacht wird es immer. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Hansen. Berlin Verlag, Berlin 2021.
283 Seiten, 25 Euro.
In Gefahr283 Seiten, 25 Euro.
In einer Erzählung rettet eine Frau statt ihres Babys eine Bambusstaffelei aus der brennenden Wohnung, in einer anderen artet ein Strandidyll mit einem Übergewichtigen in ein groteskes Abenteuer aus, in "Das blaue Hotel" führt ein wahnsinniger Schwede, der vielleicht keiner ist, mit albtraumhafter Logik seinen Tod herbei. Crane fackelt nicht lange: Ohne zu wissen warum, finden sich seine Figuren in existenziell bedrohlichen Situationen wieder, werden in Schneestürmen, Feuersbrünsten und Schiffbrüchen höllischen Erfahrungen ausgesetzt. Es sind, trotz der überwältigenden Sinnlichkeit der Beschreibungen, kühne expressive Einübungen in die Sinnlosigkeit des Lebens, dessen einziger Sinn eben darin besteht: zu überleben.
Stephan Crane: Die tristen Tage von Coney Island. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Bernd Gockel. Pendragon Verlag, Bielefeld 2021. 283 Seiten, 25 Euro.
von Ingrid Mylo
am
Fr, 15. Oktober 2021