TIPPS DES MONATS

Sätze wie Heilkräuter
Richard Ford: Irische Passagiere.
Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2020. 286 Seiten, 22 Euro.

Sie trennen sich von ihren Ehepartnern, nehmen Abschied von ihren Müttern, versuchen, nach dem Tod ihrer Frau klarzukommen, heiraten erneut, lassen sich auf heimliche Affären in Hotelzimmern ein. "Keine Überraschung, nirgends." Da sind Drinks und Tage in Paris, Situationen, in denen es über einen Kuss nicht hinausgeht, Irland am Horizont. Die Männer sind meist Anwälte, die Frauen vermitteln Häuser und tragen bevorzugt blaue Sandalen. Manchmal hat selbst die Einsamkeit ihre goldenen Momente. Richards Fords stille Art, über Menschen zu schreiben, die vom Leben eines Besseren belehrt worden sind, hat etwas ausgeprägt Organisches: als seien seine Sätze über Nacht gewachsen, draußen, in der unberührten Natur. Heilkräuter, die Kraft spenden und Narben verblassen lassen.Melodien beim Lesen
Lisa Moore: Fremde Hochzeit.
Erzählungen. Aus dem Kanadischen Englisch von Kathrin Razum. HanserVerlag, München 2020. 268 S., 23 Euro.

Durch das Babyphon erfährt eine junge Mutter von dem Seitensprung ihres Mannes während ihrer Schwangerschaft. Vor dem Spiegel eines Friseursalons erinnert sich eine Kundin an den Kuss ihres Schwimmlehrers, der sie, damals zwölfjährig, einen Zahn gekostet hat. Im grauen Schimmel an der Toilettendecke entdeckt eine eifersüchtige Frau, "was es heißt, ein Mensch zu sein". In elf Erzählungen aus 20 Jahren erkundet Lisa Moore seelische und körperliche Entblößungen: und geht so verstiegen und metaphernreich zu Werke, dass die Zeilen vor Elektrizität vibrieren. Sie hat viel aus Songtexten gelernt (ihre Figuren heißen wie Titel von Joni Mitchell, Leonard Cohen) und setzt aus prägnanten Einzelheiten Biographien zusammen, deren Melodien man beim Lesen vernimmt. Gespür für Phantastisches
Clarice Lispector: Aber es wird regnen. Sämtliche Erzählungen Bd. II. Aus dem Brasilianischen von Luis Ruby. Penguin Verlag, München 2020. 280 Seiten,
22 Euro.


Figuren, hungrig nach Ekstase, mit einem Talent für Teufeleien und maßloser Angst vor Ratten. Labyrinthe, in deren Gängen man vergisst, wer man war und wonach man sucht. Die Welt: ein Karneval, in dem Bücher die Stelle von Liebhabern einnehmen, Hoffnungen als Heuschrecken an der Wand sitzen und der Diebstahl von Rosen ein Licht in die Ewigkeit wirft. Clarice Lispector schreibt, wie Max Ernst malt, wie Alejandro Jodorowsky filmt: mit einem gesegneten Gespür für das Phantastische, das in dauernder Verwandlung die Geheimnisse der Seele in Szene setzt. Die Götter müssen diese visionäre Künstlerin geliebt haben: Alle Schrecken, alle Schönheiten haben sie ihr gegeben, sie hat sie bis auf den Grund ausgekostet und daraus einzigartige Erzählungen geschaffen, voller Glut und Rätsel.
von Ingrid Mylo
am Sa, 24. Oktober 2020

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