TIPPS DES MONATS
Bröckelnde Wirklichkeit
Joseph O’Neill: Guter Ärger. Stories. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
173 Seiten, 22 Euro.
Ob ein Vater seinen beraubten Sohn rächen will, eine Großmutter wegen eines "Fitzelchens Haut" ihren Enkel nicht mehr sehen darf oder der Wurf eines Cocktailshakers als Ausdruck erfolgloser Lebensplanung erachtet wird: In den elf Stories, die sich immer wieder zu scharf formulierten Abhandlungen erweitern, geht es um die Erosion von Gewissheiten. Wenn man anfängt, ernsthaft nachzudenken, beginnt die Wirklichkeit zu bröckeln. O’Neill denkt ernsthaft nach, sein Schreiben ist so zugespitzt, dass es in Perfektion auf Schweigen hinauslaufen würde. Davon sieht er zum Glück ab, auch wenn das, was er tut, "ein paar Atome vom Nichts entfernt" ist: Diese Atome möchte man um nichts in der Welt missen. Überforderte Mutter
Kyra Wilder: Das brennende Haus.
Roman. Aus dem Englischen von Eva Kemper. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 254 Seiten, 22 Euro.
Eine Amerikanerin in Genf: Nichts ist vertraut, weder Sprache noch Umgebung, keine Freunde in Reichweite, der meist abwesende Mann befasst mit Beruf und Geliebter. Zwei kleine Kinder, der Haushalt: Das ist alles, was sie hat, und gleichzeitig viel zu viel. Nachts schleift sie Messer, verhängt die Küchenuhr, sieht den Zitronen beim Verfaulen zu, während sie immer noch bemüht ist, den Alltag in "etwas Schönes" zu verwandeln. Kyra Wilder setzt in ihrem Roman um eine überforderte Mutter auf Poesie anstelle von Erklärungen: Und alles versteht sich von selbst. Leider wurde der Originaltitel ("Little Bandaged Days") nicht beibehalten: "Das brennende Haus" signalisiert von vornherein, was sich sonst allmählich und umso verstörender eingeschlichen hätte. Fortschreitende Liebe
Margaret Atwood: Die Füchsin.
Gedichte 1965–1995. Aus dem Englischen von Monika Rinck, Jan Wagner und anderen. Berlin Verlag, Berlin 2020. 407 Seiten, 40 Euro.
Ein Schatten wird Spiegelung, eine Stimme zum leeren Handschuh, aus einem Baum im Wohnzimmer steigen Planeten und Salz: In Margaret Atwoods Gedichten vollziehen sich Wandlungen wie Atemzüge, wenn sie von fortschreitender Liebe spricht, von der Natur und ihrer Zerstörung, von Geständnissen am Frühstückstisch, geschändeten Frauen und Drohungen am Horizont. Ihre Verse sind schiere Vergegenwärtigung: auch dort, wo das Außerirdische Form annimmt und Mythen ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Die 97 Gedichte entstammen zehn Bänden und sind von neun Deutschen unterschiedlich gut übersetzt: Während Ulrike Draesner sich in kapriziösen Verrenkungen ergeht, trifft Monika Rinck Atwoods klaren Ton aufs wunderbarste: Und die Worte brennen sternenhell in der eisigen Nacht. von Ingrid Mylo
Joseph O’Neill: Guter Ärger. Stories. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
173 Seiten, 22 Euro.
Ob ein Vater seinen beraubten Sohn rächen will, eine Großmutter wegen eines "Fitzelchens Haut" ihren Enkel nicht mehr sehen darf oder der Wurf eines Cocktailshakers als Ausdruck erfolgloser Lebensplanung erachtet wird: In den elf Stories, die sich immer wieder zu scharf formulierten Abhandlungen erweitern, geht es um die Erosion von Gewissheiten. Wenn man anfängt, ernsthaft nachzudenken, beginnt die Wirklichkeit zu bröckeln. O’Neill denkt ernsthaft nach, sein Schreiben ist so zugespitzt, dass es in Perfektion auf Schweigen hinauslaufen würde. Davon sieht er zum Glück ab, auch wenn das, was er tut, "ein paar Atome vom Nichts entfernt" ist: Diese Atome möchte man um nichts in der Welt missen. Überforderte Mutter
Kyra Wilder: Das brennende Haus.
Roman. Aus dem Englischen von Eva Kemper. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 254 Seiten, 22 Euro.
Eine Amerikanerin in Genf: Nichts ist vertraut, weder Sprache noch Umgebung, keine Freunde in Reichweite, der meist abwesende Mann befasst mit Beruf und Geliebter. Zwei kleine Kinder, der Haushalt: Das ist alles, was sie hat, und gleichzeitig viel zu viel. Nachts schleift sie Messer, verhängt die Küchenuhr, sieht den Zitronen beim Verfaulen zu, während sie immer noch bemüht ist, den Alltag in "etwas Schönes" zu verwandeln. Kyra Wilder setzt in ihrem Roman um eine überforderte Mutter auf Poesie anstelle von Erklärungen: Und alles versteht sich von selbst. Leider wurde der Originaltitel ("Little Bandaged Days") nicht beibehalten: "Das brennende Haus" signalisiert von vornherein, was sich sonst allmählich und umso verstörender eingeschlichen hätte. Fortschreitende Liebe
Margaret Atwood: Die Füchsin.
Gedichte 1965–1995. Aus dem Englischen von Monika Rinck, Jan Wagner und anderen. Berlin Verlag, Berlin 2020. 407 Seiten, 40 Euro.
Ein Schatten wird Spiegelung, eine Stimme zum leeren Handschuh, aus einem Baum im Wohnzimmer steigen Planeten und Salz: In Margaret Atwoods Gedichten vollziehen sich Wandlungen wie Atemzüge, wenn sie von fortschreitender Liebe spricht, von der Natur und ihrer Zerstörung, von Geständnissen am Frühstückstisch, geschändeten Frauen und Drohungen am Horizont. Ihre Verse sind schiere Vergegenwärtigung: auch dort, wo das Außerirdische Form annimmt und Mythen ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Die 97 Gedichte entstammen zehn Bänden und sind von neun Deutschen unterschiedlich gut übersetzt: Während Ulrike Draesner sich in kapriziösen Verrenkungen ergeht, trifft Monika Rinck Atwoods klaren Ton aufs wunderbarste: Und die Worte brennen sternenhell in der eisigen Nacht. von Ingrid Mylo
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Sa, 30. Januar 2021