Trauer in Ewigkeit
Das "wunschlose Unglück" will kein Ende nehmen in der Literatur der Gegenwart. Wie in Peter Handkes berühmter Erzählung sind die Heldinnen in den Büchern der 1973 in San Francisco geborenen US-amerikanischen Schriftstellerin, Kritikerin und Essayistin Maggie Nelson in eine traumatische Lebenskatastrophe festgebannt. Das Unheil, das sie heimsucht, hat meist eine Primärquelle: ein Todesfall oder ein Liebesverlust von zerstörerischer Intensität, der die Erzählerinnen dieser Texte zu verschlingen droht. Mit einem geschundenen Herzen kämpft hier das autobiografische Ich gegen einen unbesiegbaren Feind: den Schmerz. Das Schreiben, so scheint es, ist die einzige Aktivität, die zur Selbsterrettung beitragen kann, ja die einzige Handlung, die ausgeführt zu werden verdient. Freilich gibt es in dieser Prosa für das Ich keine Katharsis, keine Heilung, sondern immer nur neue Anläufe, um der Gewalt der beschriebenen Traumata zu entkommen.
Das in den USA zuerst 2007 erschienene Memoir "The Red Parts" – "Die roten Stellen", wie es in der schlackenlosen Übersetzung von Jan Wilm heißt – rekonstruiert die Geschichte eines rätselhaften Mordfalls. Das Opfer war im Frühjahr 1969 die damals 23-jährige Jurastudentin Jane Mixer, eine Tante von Maggie Nelson. 35 Jahre lang blieb die Untat ein Cold Case, ein ungelöster Mordfall, als Täter galt lange ein brutaler Serienmörder aus Michigan, der sieben Frauen auf bestialische Weise getötet hatte.
Sie wolle einen literarischen Ort herstellen, "wo Trauer für alle Ewigkeit währt", notiert die Autorin in ihrem Vorwort. Das ist der fabelhaften Erzählerin Maggie Nelson auf fast unheimliche Weise gelungen. Zwar durchwatet sie in ihrem Bericht auch die Untiefen einer Reality-TV-Show, die "48 Hours Mystery", die das wachsende voyeuristische Bedürfnis nach keimfrei erlebbarem Gewaltkonsum befriedigt. Die schutzloseste Gestalt in diesem meisterhaften Prosa-Buch bleibt indes immer die Erzählerin selbst.
Zu den beklemmendsten Szenen in "Die roten Stellen" gehört die doppelte wie doppelbödige Darstellung einer Strangulation. Da ist zum einen die pedantisch genaue Beschreibung von Fotografien, die den versehrten Körper des weiblichen Mordopfers zeigen und dabei immer wieder den Nylonstrumpf, der beim Akt der Erdrosselung den Hals der jungen Frau fast durchtrennte. Und da ist zum anderen das Bekenntnis der Erzählerin, die das Zuschnüren des eigenen Halses mit einem Nylonstrumpf als Mittel zur Steigerung sexueller Lust einsetzt. Solche kühl kalkulierten Frivolitäten sind typisch für Maggie Nelsons queer-feministische Gratwanderung auf dem Territorium von Eros und Tod. Was hier als "Autobiographie eines Prozesses" ("Autobiography of a trial") angekündigt ist, meint auch die beständige Verwandlung der Erzählerin beim Versuch, jenen Orten rauschhafter Betäubung nahezukommen, "wo Lust und Leiche winkt" (Gottfried Benn).
Maggie Nelson hat ein extrem suggestives Buch geschrieben, ein zwischen Memoir, Essay, Erzählung und tagebuchartigem Protokoll changierendes Werk, das die Rekonstruktion eines Mordfalls zum Anlass nimmt, um die Erfahrungen einer verwundeten Seele aufzuschreiben. "The Red Parts" sind die Schmerzpunkte des eigenen Lebens, an die sich Maggie Nelson auch in ihren anderen Büchern herantastet – um sich schreibend von ihnen zu befreien. So geht es eben nicht nur um die "Autobiographie eines Prozesses", sondern um eine überwältigend intensiv erzählte Expedition in die Kindheit der Erzählerin und um den obsessiven Sog des "murder minds" (Jan Wilm übersetzt hier "Mordgemüt"), in den alle Figuren des Buches hineingerissen werden. Der Mord wird schließlich auch für den ermittelnden Polizisten zum fatalen Lebensmittelpunkt, der alle Lebenswünsche überlagert.
Bereits die essayistischen und erzählerischen Miniaturen des um die Farbe Blau kreisenden Bandes "Bluets" (im Original 2009, auf Deutsch 2018) versammelten Figurationen von Liebesverlust und Verlassenheit. Und je näher in "Die roten Stellen" die Aufklärung des rätselhaften Mordes rückt, desto stärker werden die Zweifel der Beteiligten an der Möglichkeit einer juristischen Wahrheitsfindung.
Am Ende des Prozesses wachsen nicht nur die Zweifel daran, dass der wirkliche Täter seiner verdienten Strafe zugeführt wurde. Am Ende hat auch die Ich-Erzählerin einen harten Gerichtstag über sich selbst gehalten, ohne einer erlösenden Wahrheit über das eigene Leben näherzukommen. In dieser Suchbewegung, der unabschließbaren Einkreisung der Geheimnisse des eigenen Existierens liegt die Wahrheit aller großen Literatur.
Das in den USA zuerst 2007 erschienene Memoir "The Red Parts" – "Die roten Stellen", wie es in der schlackenlosen Übersetzung von Jan Wilm heißt – rekonstruiert die Geschichte eines rätselhaften Mordfalls. Das Opfer war im Frühjahr 1969 die damals 23-jährige Jurastudentin Jane Mixer, eine Tante von Maggie Nelson. 35 Jahre lang blieb die Untat ein Cold Case, ein ungelöster Mordfall, als Täter galt lange ein brutaler Serienmörder aus Michigan, der sieben Frauen auf bestialische Weise getötet hatte.
Die Ermordung der
Jane Mixer
Durch die späte Identifizierung einer DNA-Spur gerät nun 35 Jahre nach der Tat ein neuer Verdächtiger ins Blickfeld. Von den elf Tagen der Gerichtsverhandlung gegen diesen neuen Verdächtigen im Juli 2005, an deren Ende der Angeklagte Gary Earl Leiterman zu lebenslanger Haft verurteilt wird, handelt dieses faszinierende Erinnerungsbuch. Eine besondere Pointe dabei ist, dass Maggie Nelson bereits kurz vor dem Prozess ein elegisches Poem auf den Tod ihrer Tante Jane ("Jane: A murder") publiziert hatte. Im Verlauf der Gerichtsverhandlung, die in unglaublicher Akribie die Details der Ermordung von Jane Mixer rekonstruiert, taucht die Autorin erneut ein in die Szenarien von Schrecken und Schmerz. War das Poem "Jane: A murder" ein Akt der lyrischen Imagination, so überschreibt nun das Memoir "Die roten Stellen" die Umstände des Mordes mit einer erschütternden Faktographie.Jane Mixer
Sie wolle einen literarischen Ort herstellen, "wo Trauer für alle Ewigkeit währt", notiert die Autorin in ihrem Vorwort. Das ist der fabelhaften Erzählerin Maggie Nelson auf fast unheimliche Weise gelungen. Zwar durchwatet sie in ihrem Bericht auch die Untiefen einer Reality-TV-Show, die "48 Hours Mystery", die das wachsende voyeuristische Bedürfnis nach keimfrei erlebbarem Gewaltkonsum befriedigt. Die schutzloseste Gestalt in diesem meisterhaften Prosa-Buch bleibt indes immer die Erzählerin selbst.
Zu den beklemmendsten Szenen in "Die roten Stellen" gehört die doppelte wie doppelbödige Darstellung einer Strangulation. Da ist zum einen die pedantisch genaue Beschreibung von Fotografien, die den versehrten Körper des weiblichen Mordopfers zeigen und dabei immer wieder den Nylonstrumpf, der beim Akt der Erdrosselung den Hals der jungen Frau fast durchtrennte. Und da ist zum anderen das Bekenntnis der Erzählerin, die das Zuschnüren des eigenen Halses mit einem Nylonstrumpf als Mittel zur Steigerung sexueller Lust einsetzt. Solche kühl kalkulierten Frivolitäten sind typisch für Maggie Nelsons queer-feministische Gratwanderung auf dem Territorium von Eros und Tod. Was hier als "Autobiographie eines Prozesses" ("Autobiography of a trial") angekündigt ist, meint auch die beständige Verwandlung der Erzählerin beim Versuch, jenen Orten rauschhafter Betäubung nahezukommen, "wo Lust und Leiche winkt" (Gottfried Benn).
Maggie Nelson hat ein extrem suggestives Buch geschrieben, ein zwischen Memoir, Essay, Erzählung und tagebuchartigem Protokoll changierendes Werk, das die Rekonstruktion eines Mordfalls zum Anlass nimmt, um die Erfahrungen einer verwundeten Seele aufzuschreiben. "The Red Parts" sind die Schmerzpunkte des eigenen Lebens, an die sich Maggie Nelson auch in ihren anderen Büchern herantastet – um sich schreibend von ihnen zu befreien. So geht es eben nicht nur um die "Autobiographie eines Prozesses", sondern um eine überwältigend intensiv erzählte Expedition in die Kindheit der Erzählerin und um den obsessiven Sog des "murder minds" (Jan Wilm übersetzt hier "Mordgemüt"), in den alle Figuren des Buches hineingerissen werden. Der Mord wird schließlich auch für den ermittelnden Polizisten zum fatalen Lebensmittelpunkt, der alle Lebenswünsche überlagert.
Bereits die essayistischen und erzählerischen Miniaturen des um die Farbe Blau kreisenden Bandes "Bluets" (im Original 2009, auf Deutsch 2018) versammelten Figurationen von Liebesverlust und Verlassenheit. Und je näher in "Die roten Stellen" die Aufklärung des rätselhaften Mordes rückt, desto stärker werden die Zweifel der Beteiligten an der Möglichkeit einer juristischen Wahrheitsfindung.
Gerichtstag
über sich selbst
Und um so tiefer sinkt auch das schreibende Ich in ein Gefühl der Verlassenheit zurück: "Ich habe mich noch nie so verloren gefühlt", notiert die Erzählerin an einem Prozess-Tag, "noch nie solche Dunkelheit gefühlt… In der Duschkabine werde ich mich hinknien und weinen, das Wasser über meinen Körper fließen lassen, dafür beten, nicht noch mehr leiden zu müssen, dafür beten, dass sich dieser Verlust, dass sich diese gesamte Zeit über mich hinwegbewegt, durch mich hindurchbewegt, wie ein dunkler Sturm, der sich über eine weite Ebene schiebt. Eine weite Ebene, die im Wesentlichen meine Seele ist."über sich selbst
Am Ende des Prozesses wachsen nicht nur die Zweifel daran, dass der wirkliche Täter seiner verdienten Strafe zugeführt wurde. Am Ende hat auch die Ich-Erzählerin einen harten Gerichtstag über sich selbst gehalten, ohne einer erlösenden Wahrheit über das eigene Leben näherzukommen. In dieser Suchbewegung, der unabschließbaren Einkreisung der Geheimnisse des eigenen Existierens liegt die Wahrheit aller großen Literatur.
Maggie Nelson: Die roten Stellen.
Autobiographie eines Prozesses. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag Hanser
Berlin, Berlin 2020. 224 Seiten, 23 Euro
.
von Michael Braun
Autobiographie eines Prozesses. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag Hanser
Berlin, Berlin 2020. 224 Seiten, 23 Euro
am
Sa, 01. Februar 2020